Sinus-Jugendstudie: “Aufwachsen in Krisen ist der Normalzustand”

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Jugendliche wachsen aktuell in einer Welt auf, die von Krisen geprägt ist. Die Sinus-Jugendstudie erforscht, wie sich das auf die Wertvorstellungen auswirkt. Und beantwortet die wichtige Frage: Rückt die Jugend nach rechts? Kriege, Klimawandel und nun auch noch hohe Wahlgewinne für eine rechte Partei in Deutschland. Die Lebenswelt von Jugendlichen ist davon genauso betroffen wie die der Erwachsenen. Die Sinus-Jugendstudie erforscht, was junge Menschen umtreibt und wie sie in ihre Zukunft blicken. Forschende des Sinus-Instituts haben dafür mit Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren gesprochen und herausgefunden: In vielen Punkten unterscheidet sich die junge Generation nicht von früheren Jugendlichen. Sie suchen Sicherheit und Stabilität. Darüber hinaus sorgen sie sich um das Klima, um Kriege, aber auch Diskriminierung und Rassismus . Doch vor allem bei einem Thema weichen die heutigen Jugendlichen stark von früheren Generationen ab. Und wie sieht es mit einem Rechtsruck der Jugendlichen aus? Forscher Tim Gensheimer rät im Gespräch mit t-online zur Vorsicht bei vorschnellen Rückschlüssen aus den Wahlergebnissen. Herr Gensheimer, bei den Europawahlen hat ein nicht geringer Teil der jungen Menschen die AfD gewählt. Ist unsere Jugend rechts? Tim Gensheimer: Ich wäre sehr vorsichtig zu sagen, dass die Jugend nach rechts tendiert. Ja, die AfD lag zusammen mit CDU/CSU und den vielen sonstigen Parteien weit vorne. Aber die Mehrheit der jungen Menschen hat progressiv-liberale Parteien wie SPD , Grüne, FDP , Volt und Linke gewählt. Die Mehrheit wählt diese Parteien, nicht die AfD. Dennoch stimmten viele für diese Partei. Klar, die hohen Werte für die AfD sind überraschend und erschreckend, aber unsere Studie zeigt keine Anzeichen, dass unter Jugendlichen ein geschlossen rechtes oder rechtsextremes Weltbild entsteht oder zunimmt. Zentrale Werte, die Jugendliche teilen, sind Toleranz, Weltoffenheit und Diversität. In den vergangenen Monaten dürfte die AfD von allgemeinem Frust mit der Ampelregierung, dem Thema Zuwanderung und hohen Lebenskosten profitiert haben. Wie tickt die Jugend denn politisch? Politisch und gesellschaftlich prägen die vielen Krisen der vergangenen Jahre das Stimmungsbild der Jugendlichen. Es herrscht eine größere Besorgnis, besonders in Bezug auf das Klima. Gleichzeitig wächst die Kluft zwischen den Erwartungen an die Politik und dem Vertrauen in deren Problemlösungsfähigkeit. Inwiefern? Wenn wir uns mit Jugendlichen unterhalten, sehen wir, dass Politik oft einen eher geringen Stellenwert in ihrem Alltag hat. Es gibt einige stark politisch interessierte Jugendliche, aber viele fremdeln mit der Welt der Politik. Aus anderer Forschung wissen wir, dass viele junge Menschen unter 30 Jahren bei klassischen Umfragen oft nicht wissen, wen sie wählen sollen, stärker als ältere Menschen. Ihre Wahlneigungen scheinen volatiler zu sein als bei Erwachsenen. In ein paar Monaten kann das schon wieder ganz anders aussehen. Junge Leute wählen selten große Parteien oder Parteien in Regierungsverantwortung, sondern bevorzugen Oppositions- oder kleinere Parteien. Das hat bei der letzten Wahl die Grünen besonders geschwächt. Welche Rolle spielt dann TikTok für die politische Information von Jugendlichen? Dort ist die AfD sehr präsent. TikTok hat Instagram und YouTube als wichtigste soziale Plattform abgelöst. Soziale Medien sind die Hauptquelle für Nachrichten, allerdings misstrauen Jugendliche der Qualität der dortigen Informationen. Jugendliche erfahren beiläufig von aktuellen Ereignissen, während sie etwas anderes tun. Die AfD ist auf TikTok mit einer großen Menge an Content präsenter als andere Parteien und spricht junge Menschen direkt an. Die Funktionsweise von TikTok – aufmerksamkeitsheischend und emotionalisierend – passt gut zur Kommunikationsstrategie der AfD. Was konnten Sie in Ihrer Studie noch herausfinden? Ein zentrales Ergebnis unserer Studie ist, dass die heutigen Teenager die Krisen unserer Zeit wahrnehmen. Sie sorgen sich um den Klimawandel, um Kriege, aber auch um Diskriminierung und Rassismus in Deutschland. Deswegen sind sie auf der Suche nach Sicherheit, Geborgenheit und Halt. Interessant ist, dass die meisten von ihnen trotz der vielen Krisen optimistisch in ihre persönliche Zukunft schauen. Ach wirklich? Ja. Durch die vielen Krisen in unserer Welt, also Kriege, Inflation und Klima, sind die Jugendlichen zwar ernster und besorgter denn je. Für die heutigen Teenager ist das Aufwachsen mitten in Krisen der Normalzustand. Aber? Fragt man sie nach ihrem Alltag, geht es den Jugendlichen ihrer eigenen Einschätzung nach im Großen und Ganzen gut. Fast niemand ist unzufrieden. Allerdings sind auch nur wenige enthusiastisch. Ihre Grundbedürfnisse sind erfüllt, sie fühlen sich sozial eingebunden und die materielle Situation der Familie ist auskömmlich. Welche Sorgen treiben die Jugendlichen dann um? Es sind hauptsächlich persönliche Aspekte und der Übergang zum Erwachsensein: Wie geht es nach der Schule weiter? Wie komme ich ohne meine Eltern zurecht? Wie steht es um die Gesundheit der Familie? Werden Freundschaften halten? Und erst danach kommen gesellschaftliche oder politische Sorgen. Aber sie prägt generell ein Bewältigungsoptimismus. Was meinen Sie damit? Die Jugendlichen sind sich bewusst, was um sie passiert, vor welchen Baustellen die Welt und ihre Biografie steht, und dennoch sind sie zweckoptimistisch, dass das schon irgendwie werden wird. Wie unterscheidet sich diese Generation von vorherigen? Mehrere Punkte sind mir wichtig. Zunächst einmal ist bemerkenswert, was sich nicht verändert hat: Viele Jugendliche streben nach wie vor eine bürgerliche Normalbiografie an. Das bedeutet, sie wollen in der Mitte der Gesellschaft ankommen, oft durch eine Ehe oder feste Partnerschaft, häufig mit Kindern, und ein eigenes Zuhause. Ankommen ist vielen wichtiger, als zu experimentieren und auszubrechen – das beobachten wir seit Jahren. Und die Unterschiede? Neu ist die hohe Sensibilisierung der Jugendlichen für Genderthemen. Sie zeigen eine demonstrative Offenheit gegenüber jungen Menschen, die sich als non-binär definieren, und betrachten die Diskriminierung queerer Menschen als moralisch falsch. Die Akzeptanz von Diversität – sei es hinsichtlich Herkunft, Rollenbildern oder Lebensweisen – hat zugenommen und wird stärker als Selbstverständlichkeit eingefordert. Es ist für viele schlicht unverständlich, warum man einzelne Personen oder Gruppen schlecht behandeln sollte. Herr Gensheimer, vielen Dank für das Gespräch.

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