Wissen Sie noch, wie sich Armut anfühlt, Rüdiger Grube?

Wissen Sie noch, wie sich Armut anfühlt, Rüdiger Grube?

Er war als Vorstandsvorsitzender der Bahn Chef von 300.000 Mitarbeitern, jetzt sitzt er in Stiftungsvorständen und in mehreren Aufsichtsräten, unter anderem bei der HHLA. Ganz klar: Rüdiger Grube (72) hat es auf der Karriereleiter ganz nach oben geschafft. Dabei waren seine Startbedingungen alles andere als einfach. Der Sohn einer Bauernfamilie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Wie er als Hauptschüler Karriere machte, warum ihn eine Familie aus Blankenese finanziell unter die Fittiche nahm und wieso er eines Tages in einem Restaurant einen Koffer mit fast 14.000 Euro übergab, erzählt er im MOPO-Interview.

MOPO: Als Topmanager haben Sie Millionen verdient. Wissen Sie noch, wie sich Armut anfühlt?

Rüdiger Grube: Oh ja. Ich bin auf dem Bauernhof großgeworden. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich fünf war. Uns ging es in der Zeit wirklich nicht gut. Ein Erlebnis ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Als ich mit zehn Jahren mal aus der Schule kam, sagte meine Mutter, sie hätte nur noch eine einzige D-Mark. Aber sie sagte auch: „Geht nicht, gibt’s nicht! Geh zum Schlachter und hol Hack dafür. Ich hab noch alte Brötchen, dann machen wir eben Bouletten.“ 

Nach dem Hauptschulabschluss wollten Sie unbedingt weiter zur Schule gehen, gegen den Willen Ihrer alleinerziehenden Mutter. Sie haben dann sogar ihre Unterschrift gefälscht, um auf die Realschule gehen zu können. Warum?

Ich habe immer wieder Vorbilder gehabt, die mich inspiriert haben, einen besseren Schulabschluss zu machen. Zum Beispiel den Raketenpionier Wernher von Braun. Er hat mich zur Luftfahrt gebracht. Und ich fand Helmut Schmidt klasse. 

Rüdiger Grube als kleiner Junge bei einem Ausflug in den Hamburger Hafen: Er ist der dritte von rechts, neben ihm steht sein Bruder. Außerdem auf dem Foto zu sehen: Onkel und Tante aus Hannover, Cousin und Cousine sowie ein Bekannter. Das Foto entstand um 1960.
Privat.

Rüdiger Grube als kleiner Junge bei einem Ausflug in den Hamburger Hafen: Er ist der dritte von rechts, neben ihm steht sein Bruder. Außerdem auf dem Foto zu sehen: Onkel und Tante aus Hannover, Cousin und Cousine sowie ein Bekannter. Das Foto entstand um 1960.

Ihre Tante soll gelacht haben, als Sie ihr von ihrem damaligen Berufswunsch Pilot erzählt haben. Dafür brauche man schließlich Abitur. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Unter meiner Haut ist da ein kleiner Stachel gewachsen, ein unheimlicher Motivationsstachel. Nach dem Motto: Dir zeig ich es. Heute lache ich darüber, aber damals hat mir das sehr wehgetan. 

Rüdiger Grube begann nach dem Haupt- und dem Realschulabschluss im Jahr 1970 eine Ausbildung zum Metallflugzeugbauer bei der „Hamburger Flugzeugbau“, einem Unternehmen, das später im heutigen Airbus-Konzern aufging. Anschließend studierte er an der damaligen Fachhochschule Hamburg (heute HAW) Fahrzeugbau und Flugzeugtechnik, dann außerdem auch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Anschließend arbeitete er als Berufsschulehrer. Er wurde Lehrberauftragter an der Uni Hamburg im Fachbereich Fertigungstechnik, 1986 promovierte er. Danach ging es in die Wirtschaft: Er mache Stationen unter anderem bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm, Airbus, Daimler-Benz Aersopace, Daimler Chrysler, EADS (heute Airbus) , bis er 2009 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG wurde. 2017 trat er zurück. Heute ist er unteren anderem Aufsichtsratschef bei der HHLA, Vodafone und dem Bahntechnik-Unternehmen Vossloh.

Wie kam es, dass wohlhabende Hamburger Sie plötzlich unterstützt haben?

Ich habe als Azubi eine Ausbildungszeitung gemacht. Aus Mangel an Geschichten habe ich irgendwann angefangen, meine alten Aufsätze aus der Realschule dort abzudrucken. Mein oberster Chef Werner Blohm hat die Zeitung mit nach Hause genommen. Seine Frau las meinen Text zum Thema Organspende und sagte ihrem Mann, dass sie mich gern kennenlernen wollte. Ein paar Tage später bin ich dann hin, gestriegelt, gewaschen und geschniegelt. Wir haben uns angeregt unterhalten. Ein paar Tage später begleitete sich sie auf einen Termin und sie fragte mich, was ich denn werden wolle. Ich sagte: am liebsten Pilot, aber ich habe kein Abitur und keine Unterstützung von zu Hause. 

Und wie ging es dann weiter? 

Am nächsten Tag klingelt wieder das Telefon, Werner Blohm bat mich in sein Büro. Gleich als erstes sagte er: „Sind Sie mit 300 Mark im Monat einverstanden?“ Das Geld kam aus der Stiftung der Familie. Seine Bedingung: In den Semesterferien sollte ich dort arbeiten und er wollte das Zeugnis sehen. Danach habe ich mein Studium an der Fachhochschule begonnen. Ich war im letzten Jahrgang, der noch ohne Fachabitur studieren konnte.

Hätten Sie auch ohne diese finanzielle Unterstützung so eine Karriere hinlegen können?

Ich glaube nicht. Für mich war das Lob, Anerkennung und Motiviation. Ich habe auch Bafög bekommen, aber die 300 DM waren sehr wichtig, weil ich sie nicht zurückzahlen musste. 

Von 2009 bis 2017 war Rüdiger Grube Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG
picture alliance / NurPhoto | Emmanuele Contini

Von 2009 bis 2017 war Rüdiger Grube Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG

Der Großteil der Topmanager kommt aus der oberen Mittelschicht oder aus der Oberschicht. Hat man Sie Ihre Herkunft jemals spüren lassen? 

Diesen Eindruck hatte ich nie. Ich glaube, weil ich mich immer engagiert habe und immer versucht habe, durch Leistung positiv aufzufallen. 

Ist es in der obersten Etage ein Nachteil, wenn man aus kleinen Verhältnissen kommt? 

Ich finde, dass ich sogar einen Vorteil gegenüber anderen hatte: Ich konnte mich immer gut in andere hineinversetzen. 

Sie haben in Ihrer Karriere viel Geld verdient. Was bedeutet Ihnen Geld?

Wenn man keines hat, bedeutet es einem wahnsinnig viel. Heute brauche ich keine Statussymbole wie ein Schiff oder ein Wochenendhaus. Ich spende lieber, zum Beispiel für obdachlose Kinder und Jugendliche, die Stiftung Semperoper oder die Deutschen Nationalstiftung. In Hamburg unterstütze ich die Obdachlosenhilfe Harburg-Huus und den Verein Off Road Kids, der sich um Straßenkinder kümmert. 

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Ohne Unterstützung wäre Ihr Lebensweg vielleicht anders verlaufen. Was haben Sie als Chef gemacht, um jungen Menschen zu helfen, die eine ähnliche Herkunft haben wie Sie? 

Ich wollte immer, dass sich meine Mitarbeiter weiterentwickeln, damit sie größere Verantwortungsbereiche übernehmen können. Ich habe ihnen Aufgaben übertragen, an denen sie wachsen konnten, habe persönliche Gespräche zu den ihren Zielen geführt und die Mitarbeiter für Ausbildungszyklen freigestellt. 

Rüdiger Grube ist mit der bekannten Hamburger Köchin Cornelia Poletto verheiratet.
imago/Stephan Wallocha

Rüdiger Grube ist mit der bekannten Hamburger Köchin Cornelia Poletto verheiratet.

Werden Kinder aus armen Familien in diesem Land genügend unterstützt?

Nein. Was mich traurig macht, ist dass das Bildungsniveau sich dramatisch verschlechtert hat, Bildungsarmut hat zugenommen. Frühkindliche Bildung muss gestärkt werden, die Qualität der Schulen muss sich verbessern, gerade bei Basiskompetenzen wie Lesen und Schreiben. Dass bei den Bundesjugendspielen der Leistungsgedanke abgeschafft wurde, weil das angeblich einen zu hohen Druck verursacht hat, verstehe ich nicht. Wohlstand ohne Leistung ist eine Illusion. 

Kann jedes Kind, das heute den Hauptschulabschluss macht, den gleichen Weg hinlegen wie Sie? 

Eindeutig ja. Man muss gesund sein und Energie haben. Und Kraft, weil man durchhalten muss. Ich hatte auch traurige Tage, aber auch die Kraft, um immer wieder aufzustehen. 

Was waren das denn für traurige Tage?

Die ersten drei Semester an der Fachhochschule waren schlimm. Ich konnte kein Mathe und kein Englisch und wollte fast wieder mit dem Studium aufhören. Aber dann habe mir einen Rechenduden gekauft und mir das alles selbst beigebracht. Das Gleiche dann mit Englisch. 

Was haben eigentlich Ihre Mutter und Ihre Tante zu Ihrem Aufstieg gesagt? 

Meine Mutter war natürlich sehr stolz. Der Tante war es glaub ich egal. 

Sind Sie stolz auf das, was Sie erreicht haben? 

Ich habe meinen Lebensweg nicht geplant und habe den einen oder anderen Umweg mitgenommen. Natürlich bin ich bin stolz, aber ich würde das nie jemandem zeigen. Hochmut liegt mir fern. Ich sag immer: je mehr man im Leben wird, desto größer ist die Verantwortung, damit ordentlich umzugehen und andere Menschen mit einzubeziehen. 

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Haben sich eigentlich mal bei den Blohms bedankt, der Familie, der Sie vielleicht alles verdanken?

Umgerechnet 13.600 Euro habe ich von ihrer Stiftung bekommen. 2012 habe ich das Ehepaar Blohm in ein schönes Restaurant in Blankenese eingeladen und eine kleine Überraschung angekündigt. Dort habe ich ihnen einen Koffer mit 13.600 Euro übergeben und gesagt, dass ich mich freuen würde, wenn sie das Geld auf das Konto ihrer Stiftung einzahlen würden. Und ich habe mich für ihre Unterstützung bedankt. Sie waren gerührt. 

Wissen Sie noch, wie sich Armut anfühlt, Rüdiger Grube? wurde gefunden bei mopo.de

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