Sie wurde Opfer des „Göhrde-Mörders“: So sehr leidet ihre Tochter noch heute

Sie wurde Opfer des „Göhrde-Mörders“: So sehr leidet ihre Tochter noch heute

Seit 35 Jahren schreibt Yasmine Meier gegen ihr Trauma an: Jeden Tag verfasst sie ein Gedicht an ihre Mutter Birgit, die im Sommer 1989 spurlos verschwand. Lange blieb ihr Schicksal ein Rätsel. Erst 2017 fand man ihre Knochen im Garten des berüchtigten „Göhrde-Mörders“. Das Verbrechen habe sie niemals losgelassen, erzählt Yasmine Meier der MOPO. 

Yasmine klingelt zum dritten Mal. Nichts rührt sich. Merkwürdig – der Wagen ihrer Mutter steht vor der Garage. Sie späht durch die gläserne Haustür, der schwere Vorhang ist zugezogen. Auch das ist ungewöhnlich. Yasmine eilt um das Haus zur Terrasse. Die Tür steht einen Spalt offen. Es ist ein heißer Tag im August 1989. Sie geht hinein. „Mama?“ Die Stille pocht in ihren Ohren. Sie reißt Tür um Tür auf. Wohnzimmer, Küche, Badezimmer. Von ihrer Mutter keine Spur. Im Schlafzimmer auf dem Nachttisch stehen zwei Sektgläser, an einem ist Lippenstift. Durch die offene Balkontür weht ein kühler Luftzug.

„Göhrde-Mörder“ Kurt-Werner Wichmann ist mutmaßlich der schlimmste Serientäter in der Geschichte der Bundesrepublik.
privat

„Göhrde-Mörder“ Kurt-Werner Wichmann ist mutmaßlich einer der schlimmsten Serientäter in der Geschichte der Bundesrepublik.

Was Yasmine Meier nicht ahnt: Ihre Mutter Birgit ist in den Fängen des „Göhrde-Mörders“. Kurt-Werner Wichmann, genannt die „blonde Bestie“, ist mutmaßlich der schlimmste Serientäter in der Geschichte der Bundesrepublik. Er tötete nur einen Monat zuvor im Waldgebiet Göhrde bei Lüneburg zwei Liebespaare, einem Mann schoss er in den Kopf, einer Frau zertrümmerte er den Brustkorb. Selbst als er 1993 in U-Haft Suizid begeht, hinterlässt er mehr Fragen als Antworten. Heute steht er in Verdacht, Frauen in ganz Deutschland entführt, vergewaltigt und ermordet zu haben. Die Polizei prüft Verbindungen zu mehr als 230 Verbrechen. 

Yasmine Meier kannte den Mörder ihrer Mutter

Von der Polizei ist Yasmine Meier enttäuscht. Viele Spuren werden nicht verfolgt. Für sie beginnt ein jahrzehntelanges Martyrium. „Mein Körper fühlte sich taub an, genau wie mein Kopf“, erzählt sie heute der MOPO. Die Ungewissheit habe sie zerfressen. Die damals 20-Jährige bricht die Fremdsprachenschule ab, lebt wie auf Autopilot. Nach einem Monat rafft sie sich auf, will ihr Abitur nachholen – für ihre Mutter. An vielen Tagen geht sie nicht zur Abendschule, sie denkt an Selbstmord. Die Prüfung schafft sie nicht, einen Seelsorger bekommt sie nie.

An die vermisste Birgit Meier und das Leiden ihrer Tochter scheint die Polizei kaum zu denken. Sie verdächtigt Yasmines Vater, der kein Alibi für die Nacht hat. Er ist jedoch nicht der Einzige ohne Alibi. Auch die „blonde Bestie“ hat keins, doch ihre Spur wird nur halbherzig verfolgt. Dabei kennt Wichmann die Vermisste: Er arbeitet als Gärtner ihrer Nachbarin in Lüneburg, hat mehrfach Kontakt zu ihr. Und die Polizei kennt Wichmann: Wegen Vergewaltigung und versuchter Tötung von Frauen. Er verbüßte zu diesem Zeitpunkt bereits fünfeinhalb Jahre Jugendstrafe.

Tagelang gruben Polizisten auf dem Gelände des Serienmörders bei Lüneburg.
Polizei Lüneburg

Tagelang gruben Polizisten auf dem Gelände des Serienmörders bei Lüneburg.

Da die Frau von Wichmann mit der Nachbarin befreundet ist, wird die „blonde Bestie“ zu Festen eingeladen. Dort lernt auch Yasmine den späteren Mörder ihrer Mutter kennen. Er habe ein bisschen schnöselig, aber gut ausgesehen. „Die eiskalten Augen, von denen alle Zeugen berichteten, fielen mir auch auf“, sagt Yasmine Meier heute. „Er hatte jedoch mehrere Gesichter. Bei Frauen war er ein Sonnyboy.“

Wolfgang Sielaff gründet eigene Ermittlungsgruppe

Erst dreieinhalb Jahre nach dem Verschwinden von Yasmines Mutter durchsucht die Polizei das Haus von Wichmann – dank einer neuen Staatsanwältin in Lüneburg. Sie finden Waffen, Munition und Folterwerkzeug. Die „blonde Bestie“ landet letztendlich in U-Haft und erhängt sich dort. Damit ist die Akte geschlossen. Keine Ermittlungen gegen Tote. Sichergestellte Gegenstände werden vernichtet – trotz eindeutiger Hinweise auf Verbrechen und Verweise auf einen Mittäter Wichmanns.

Wolfgang Sielaff gibt sich damit nicht zufrieden. Er ist der Bruder von Birgit Meier und leitet 1989 das Hamburger Landeskriminalamt. Nach ihrem Verschwinden macht er seine niedersächsischen Kollegen auf offene Fragen und Widersprüche aufmerksam. Ohne Erfolg. Polizei ist Ländersache. Nach seiner Pensionierung gründet er eine private Ermittlergruppe aus alten Weggefährten: Ex-LKA-Chef Reinhard Chedor ist dabei, genau wie der Gerichtsmediziner Dr. Klaus Püschel und Strafverteidiger Gerhard Strate. Sie nehmen Wichmanns Haus genauer in Augenschein. 2017 gelingt der Durchbruch: Das Team findet die Knochen von Birgit Meier. Einbetoniert unter der Garage. Die Obduktion zeigt: Sie wurde mit einem Kopfschuss getötet.

Jeden Tag schreibt Yasmine ihrer Mutter ein Gedicht

„Meine Welt ist zusammengestürzt“, sagt Yasmine Meier. „Mama war die wichtigste Person in meinem Leben, wir waren beste Freundinnen.“ Bis zum Auffinden der Knochen macht sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin, arbeitet in einer Grundschule als Pädagogin. Seither ist sie Hausfrau. Halt findet sie nur in der Lyrik. Jeden Tag seit jenem Sommer 1989 schreibt Yasmine ihrer Mutter ein Gedicht. Wenn es fertig ist, liest sie es laut vor. Vielleicht kann ihre Mutter es hören. Der Gedanke tröstet sie.

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Yasmine Meier hat fünf Lyrikbände und zwei Romane im Selbstverlag herausgebracht. Im Januar 2024 erschien „Wie die Zeit, so die Lage“, eine Sammlung von Gedichten und Kurzgeschichten in Co-Produktion mit dem Autor Herbert Wolf. Sie teilt ihre Gedichte auch auf Social Media. Schickt ihr jemand ein Herz oder lobt ein Gedicht, fühlt es sich kurz an wie früher. Es ist dieses Gefühl von Wärme, das sie nur von ihrer Mutter kennt. „Warum hat er sie getötet?“, fragt Yasmine mit rauer Stimme. „Hat er sie vorher gequält?“ Ihre Stimme bricht.

Das Buch von Yasmine Meier und Herbert Wolf „Wie die Zeit, so die Lage“ (Novum Verlag) ist unter anderem bei Thalia und Amazon auf Deutsch und Englisch erhältlich und kostet 18,40 Euro. Es enthält auch das Gedicht für Yasmine Meiers Mutter „Für immer und ewig“, das aus mehreren Serien und Dokumentationen über das Verbrechen bekannt ist.

Sie wurde Opfer des „Göhrde-Mörders“: So sehr leidet ihre Tochter noch heute wurde gefunden bei mopo.de

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