„Da ist mir aufgegangen, wie wir betrogen wurden“: Meine Flucht in ein neues Leben

„Da ist mir aufgegangen, wie wir betrogen wurden“: Meine Flucht in ein neues Leben

Elke Leuschner wollte die DDR unbedingt verlassen. Immer wieder stellte sie einen Ausreiseantrag, wurde von der Stasi bedroht und vorgeladen. Irgendwann gaben die Beamten nach, die damals 21-Jährige durfte einen Zug besteigen, der sie in den Westen bringen sollte. Am Grenzübergang betraten Grenzer den Zug – und die junge Frau musste aussteigen. 40 Jahre, nachdem sie der DDR den Rücken gekehrt hat, erzählt die Wahl-Hamburgerin der MOPO ihre Geschichte. Ihre nervenaufreibende Flucht – und warum sie in Tränen ausbrach, als sie im Westen zum ersten Mal einen Blumenladen sah.

8. März 1984: Westdeutschland, Gießener Hauptbahnhof, 23 Uhr: Eine junge blonde Frau steht mit zwei Koffern vor einem Blumenladen. Sie lässt den Blick über die unzähligen Rosen, Tulpen, Narzissen, über die vielen Gelb-, Grün- und Rosé-Töne schweifen. Aus der DDR kannte Elke Leuschner nur rote Nelken, die zum Frauentag verteilt wurden. Sie beginnt zu weinen.

„In diesem Moment ist mir aufgegangen, wie wir in der DDR betrogen wurden“, erzählt Elke Leuschner (61) heute. „Ich weinte vor Glück, im Westen zu sein und wegen dem, was uns vorenthalten wurde.“ Leuschner wurde 1962 in Dresden geboren. „Im Tal der Ahnungslosen“, wie sie sagt. In der Stadt im Elbkessel war kein Westfernsehen oder Westrundfunk zu empfangen. Wer in ihrer Jugend die Hitparade hören wollte, fuhr für einen illegalen Mitschnitt nach Berlin.

Hamburg: Elke Leuschner verließ mit 21 die DDR

Ihre Jugend verlief zunächst ruhig. Sie lebte das Leben einer braven DDR-Bürgerin, machte eine Ausbildung zur Biologie-Laborantin, arbeitete anschließend in einem veterinärmedizinischen Untersuchungsamt und holte währenddessen auf der Volksschule ihr Abitur nach. Sie wollte unbedingt studieren. Als sie mit 18 Jahren Parteimitglied werden sollte, lehnte sie ab.

Elke Leuschner (r.) mit ihren Brüdern beim Spielen in der DDR.
Privat.

Elke Leuschner (r.) mit ihren Brüdern beim Spielen in der DDR.

Sie erfuhr nie, ob es daran lag, doch die ehrgeizige junge Frau bekam keinen Studienplatz. Ihr Arbeitgeber, der ihre Bewerbung, wie damals üblich, vermittelte, unterstützte sie nicht. Ein Vertrauensbruch – nicht nur mit ihrem Institut, sondern mit dem ganzen politischen System. In diesem Moment beschloss Elke Leuschner, die DDR zu verlassen und stellte ihren ersten Ausreiseantrag. „Ich habe zu meiner Mutter gesagt, es tut mir leid, aber ich will nicht mein Leben lang Laborantin sein. Ich möchte weiterkommen.‘“

Stasi-Mitarbeiter versuchen, sie einzuschüchtern

Die Stasi bedrohte die 20-Jährige, versuchte sie einzuschüchtern. Sie gefährde das Wohl ihrer ganzen Familie, sagten sie ihr. Wieder und wieder wurde sie vorgeladen, nie wusste sie, wer vor ihr sitzt – immer war sie alleine in einem Raum, wo ihr mehrere Mitarbeiter der Staatssicherheit gegenübersaßen.

Elke Leuschner lebte als brave DDR-Bürgerin, einen Parteieintritt lehnte sie jedoch ab.
Privat.

Elke Leuschner lebte als brave DDR-Bürgerin, einen Parteieintritt lehnte sie jedoch ab.

Doch sie gab nicht klein bei. Reagierte auf jede Ablehnung mit einem neuen Ausreiseantrag. Sie wurde erneut vorgeladen. Sie habe kein Recht dazu, die DDR zu verlassen, sagte man ihr. Leuschner erwiderte, dann gehe sie jetzt eben nach Hause und stelle einen neuen Antrag. Da fragte der Beamte unvermittelt: „Welchen Grenzübergang wollen Sie nehmen?“

Am 8. März musste sie zur Dienststelle. Sie hatte zwei Koffer mit wichtigen Dokumenten, Kleidung und Bettwäsche bei sich. Sie musste ihre Ausweispapiere abgeben – und war auf einmal staatenlos. Sie hetzte zum einzigen Zug gen Westen an diesem Tag und sprang in letzter Sekunde hinein. Sie war umgeben von alten Menschen, außer ihnen durfte sonst niemand mit dem Interzonenzug fahren. Keiner würdigte sie eines Blickes, niemand sprach mit der aufgeregten jungen Frau. Die Angst vor Spitzeln war allgegenwärtig.

Im ersten Paket ihrer Mutter war ein kleiner Hibiskus

„Ich habe die ganze Zeit Angst gehabt, dass der Zug irgendwo anhält, die Tür aufgeht und sie mich rausholen. Ab da wäre alles möglich gewesen“, sagt Leuschner. Der Zug fuhr über Leipzig, Halle, Oebisfelde. Hier, am Grenzübergang, betraten Grenzer den Zug. Sie durchsuchten ihr Gepäck, fragten, ob sie noch DDR-Geld bei sich habe. Was sie hatte. Sie wollte es den Grenzern geben, doch die nahmen es nicht. Stattdessen wurde sie raus auf den Bahnhof zu einem Mitropa-Kiosk geschickt, wo sie aus Mangel an Alternativen eine Flasche Wein und Schnaps kaufte.

„Ich musste am ganzen Zug entlang, um zurück zu meinem Abteil zu kommen“, erzählt sie. „Ich war aufgeregt, habe gezittert, die Flaschen, die ich mit einer Hand am Hals gepackt hatte, klirrten gegeneinander.“ Danach durfte sie die Grenze passieren. Als das VW-Zeichen von Wolfsburg auftauchte, war es, als fiele alle Last der Welt von ihren Schultern: sie hatte es geschafft. Endlich.

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Die damals 21-Jährige gehörte zu den mehr als 795.000 DDR-Bürgern, die zwischen 1962 und 1989 offiziell oder durch Flucht in die Bundesrepublik entkommen sind. Für Elke Leuschner gab es ein Happy-End. Sie studierte, promovierte und arbeitete als Biologin für verschiedene Einrichtungen, unter anderem in Kinderwunschzentren. 15 Jahre lebte sie in Bremen, später zog sie nach Hamburg. An ihre Flucht erinnert sie bis heute ein Hibiskus, der auf ihrem Tisch steht. Ihre Mutter schickte ihn aus der DDR, als Elke Leuschner ihren ersten Geburtstag im Westen feierte. Alle fünf Jahre hat er eine einzige Blüte, groß und knallrot. Er ist 40 Jahre alt.

„Da ist mir aufgegangen, wie wir betrogen wurden“: Meine Flucht in ein neues Leben wurde gefunden bei mopo.de

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