ADHS – Wie die Diagnose mein Leben veränderte

ADHS – Wie die Diagnose mein Leben veränderte

In der Grundschule wurde ich irgendwann vom Fenster weggesetzt – niemand sagte mir warum. Und schon damals hatte ich das Gefühl, dass ich irgendwie anders bin, nicht richtig reinpasse. Das hielt sich, bis an einem Tag in den Sommerferien – bald sollte die elfte Klasse starten – plötzlich alles einen Sinn ergab.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Daran, dass ich am Handy durch die Nachrichten scrollte und auf einen Text zum Thema ADHS stieß. Es war, als würde ich einen Artikel über mich selbst lesen. 

Habe ich ADHS? Ich sprach meine Mutter an

Am Abend sprach ich meine Mutter auf den Verdacht an, dass ich ADHS habe – und sie erzählte mir plötzlich, dass meine Eltern dieselbe Vermutung bereits vor Jahren hatten. Deshalb hatten sie meine Lehrerin gebeten, mich umzusetzen – sie dachten, das könnte die Ablenkung minimieren. Meine Eltern wollten mich sogar testen lassen, entschieden sich aber dagegen.

Warum? Weil sie mich nicht brandmarken und mir ein Leben voller Medikamente ersparen wollten. Rückblickend muss ich sagen, dass ich dennoch gebrandmarkt wurde: „verträumt“, „zu sensibel“, „komisch“ und „faul“ waren so Attribute, die mir zugeschrieben wurden – nicht zuletzt von meiner Familie selbst. 

Ein Jahr später stand die Diagnose

Nach dem Gespräch stürzte ich mich in die Recherche und bestand darauf, mich testen zu lassen. Eine Ärztin empfahl mir, zum Psychiater zu gehen. Ein Jahr später hatte ich die Diagnose.

Was ist ADHS überhaupt? „Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktiviäts-Störung ist eine Art körperliche Erkrankung, die sich im Psychischen abbildet, aber biologische Wurzeln hat. Es ist außerdem ein Syndrom, da mehrere Symptome vorliegen. In dem Fall sind es Konzentrationsstörungen, äußere oder innere Unruhe, Reizüberflutungen, Desorganisation, Impulsivität oder Stimmungsschwankungen. ADHS besteht von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter und macht anfällig für weitere psychische Erkrankungen“, sagt Nicolai Semmler. Er ist psychologischer Psychotherapeut mit Praxis in Hamburg und hat sich auf ADHS spezialisiert. 

Das sind die Symptome von ADHS

Die Symptome von ADHS, beispielsweise Vergesslichkeit, Impulsivität oder fehlende Konzentration, kann jede Person in gewisser Weise nachempfinden. Dennoch hat nicht jeder „ein bisschen ADHS“. Denn ein Kriterium für die Diagnose ist der Nachweis, dass die Symptome das Leben der Betroffenen von Kindesalter an bis zum Erwachsensein beeinflussen und sie im Alltag aktiv behindern, sagt Nicolai Semmler. ADHS bekommt man nicht, es ist genetisch. 

Der Psychologe erklärt es am Thema Aufmerksamkeit: „Bei ADHS gibt es Probleme in der Steuerungsfähigkeit der Konzentration. Man kann sich zwar konzentrieren, aber nicht immer aussuchen, wann und worauf man sich konzentriert. Bei Themen, die für Betroffene interessant sind, klappt das ganz gut. Gleichzeitig kann das auch tagesformabhängig sein“, sagt Semmler und vergleicht dieses Phänomen mit einem Kabel, das einen Wackelkontakt hat – ohne große äußere Einwirkungen können plötzlich Störungen auftreten. 

ADHS oder ADS – ist das das Gleiche? Ja, ADS wird aber medizinisch nicht mehr verwendet. 

ADHS ist seit 2003 bei Erwachsenen anerkannt

Ist ADHS nicht nur eine Modediagnose und wird überdiagnostiziert? ADHS ist in Deutschland erst seit 2003 bei Erwachsenen anerkannt. Früher dachte man auch, dass nur Jungs – Stereotyp ist der kleine Zappelphilipp, der nicht stillhalten kann – betroffen sind. Und dann gibt es nicht wenige Kritiker, die eine „Überdiagnostizierung“ monieren, dass vor allem Jungs häufiger den ADHS-Stempel bekommen als nötig. 

Morgen wird nicht gedruckt. Papier ist alle.

Ein besonderes Jubiläumsbuch – ganz ohne langweilige Danksagungen: Zum 75. Geburtstag der „Hamburger Morgenpost“ zieht Deutschlands älteste Boulevardzeitung blank und erlaubt ehrliche Einblicke in das Innenleben der Redaktion – ungeschönt, nicht immer hübsch, manchmal ganz schön heftig. Aber auch voller Liebe, Energie und Respekt für das, was Menschen hier in 75 Jahren geleistet haben.

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Aber das bin ich nicht. Ich bin 19 Jahre alt, weiblich, habe ein Abitur von 1,8 und trotzdem ADHS. Die Störung präsentiert sich in Frauen und Mädchen nur häufig als hauptsächlich unaufmerksam; aus dem Fenster starrend und in der eigenen Welt versunken. Dass ich meine Diagnose erst mit 17 bekommen habe, ist nicht ungewöhnlich.

Bei Frauen wird ADHS oft erst spät erkannt

Warum wird die Diagnose bei Frauen so spät erkannt? Dadurch, dass Frauen und Mädchen in der Regel eher weniger offensichtliche Symptome zeigen, werden sie seltener diagnostiziert: Eine Studie aus dem Jahr 2011 zeigt, dass 13 Prozent der Jungen und 4,2 Prozent der Mädchen in Amerika diagnostiziert sind, obwohl nicht bewiesen ist, dass ADHS generell häufiger bei Jungen vorkommt. 

„Ein Junge, der über Tische und Bänke geht und laut ist, der fällt natürlich schneller als störend auf als ein Mädchen, das aus dem Fenster schaut“, sagt Nicolai Semmler dazu.

Der typische Leidensweg sieht dann oft so aus: Die Mädchen strengen sich doppelt so gut an, gelten als gute Schülerinnen, doch weil das alles so anstrengend ist, der Druck so groß, sind sie irgendwann ausgebrannt, scheitern im Job und suchen verzweifelt nach der Ursache. Mit Glück folgt dann die verspätete Diagnose ADHS.

So reagierte meine Familie auf die Diagnose

Wie reagierten Außenstehende auf meine Diagnose? Meinem Vater war das Thema komplett egal, meine Oma reagierte, als hätte ich ihr mitgeteilt, ich würde eine lebensbedrohliche Krankheit haben, und meine Tante meinte nur: „Das ist nichts, worauf du stolz sein solltest.“ Dazu kann ich nur sagen: Doch. Nach all den Jahren eine Diagnose zu haben, war ein großartiges Gefühl.

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Meine Freunde reagierten überrascht, aber positiv, und dafür bin ich unglaublich dankbar. Bis auf einen: „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du kein ADHS hast“, sagte mir ein damaliger Freund noch vor meiner Diagnose. Als Beweis zählte er Aspekte auf, mit denen ich keine Probleme hätte – doch, hatte ich –, und erzählte mir, dass ADHS nur eine Modediagnose sei.  Das von jemandem zu hören, der sich vorgeblich sehr für Medizin und Psychologie interessierte, war zermürbend. Denn obwohl ich immer sicherer war, schwankte ich konstant zwischen belegbaren Indizien und starken Zweifeln. Manchmal beschleicht mich das Gefühl heute noch; wenn ich partout nicht tun kann, was ich möchte, oder wieder höre, es sei alles eine Frage der Einstellung. 

ADHS – Wie die Diagnose mein Leben veränderte wurde gefunden bei mopo.de

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