Diffamiert als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“: Die vergessenen NS-Opfer

Diffamiert als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“: Die vergessenen NS-Opfer

Keiner kennt genaue Zahlen. Schätzungen sprechen von 70.000 Männern und Frauen, die – als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ diffamiert – von den Nazis ins Konzentrationslager gesteckt wurden. Nach dem Krieg sahen die Behörden in ihnen keine politisch oder rassisch Verfolgten, verweigerten jede Form von Entschädigung oder Anerkennung. Es hieß, sie seien „zu Recht“ im KZ gewesen. Die Stigmatisierung wirkte weiter und die Betroffenen schwiegen – zumeist aus Scham. So blieb es bis 2020 der Bundestag die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus endlich rehabilitierte.

Eins dieser verleugneten Opfer war sie: die Hamburgerin Erna Lieske, von der es nichtmal mehr ein Foto gibt. „Über das Schicksal meiner Oma wurde in unserer Familie nie geredet“, erzählt die Enkelin Liane Lieske aus St. Georg. Mit der Lücke in der Familiengeschichte wollte sich die 74-Jährige nicht zufriedengeben und fing an, das Leben ihrer Großmutter zu rekonstruieren. Sie stieß auf ein tragisches Schicksal.

Erna Lieske wurde aus purer Not kriminell – im KZ Auschwitz verlor sie ihr Leben

Stolperstein für Erna Lieske vor dem Haus Armgartstraße 20 in Hamburg.
privat

Stolperstein für Erna Lieske vor dem Haus Armgartstraße 20 in Hamburg.

Erna Lieske wurde im Jahr 1900 in Pommern geboren. Das uneheliche Mädchen wuchs in bitterarmen Verhältnissen auf. Der Vater war unbekannt. Ihre Mutter, eine Dienstbotin, konnte sich um ihre Tochter kaum kümmern, sodass sich das Kind früh allein durchschlagen musste. Noch minderjährig trat Erna Lieske wegen kleiner Bagatelldiebstähle und Urkundenfälschungen polizeilich in Erscheinung, saß mehrfach im Gefängnis. Sie wurde zweimal unehelich schwanger, brachte 1920 ein Mädchen und 1924 einen Jungen zur Welt, die ihr weggenommen wurden und in Kinderheimen aufwuchsen.

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1932 zog Erna Lieske nach Hamburg. Dort wohnte sie zur Untermiete im Haus Armgartstraße 20 (Hohenfelde), arbeitete in einer Druckerei. Ihr Chef beschrieb sie als „sehr fleißig“. Sie verliebte sich in einen Polizeibeamten. Der Heiratstermin stand bereits, da erfuhr der Verlobte von Erna Lieskes Vorstrafen und trennte sich. Als Erna Lieske dann auch noch den Job verlor, begann das Drama: Mit sechs Reichsmark Arbeitslosenunterstützung konnte sie die Miete für ihr Zimmer nicht mehr bestreiten. „Irgendwo hat sie Kleidung oder ein Tischtuch mitgehen lassen, um so an Geld zu kommen“, erzählt Liane Lieske.

Dass Juden, Roma, Sinti und Homosexuelle von den Nazis verfolgt wurden, weiß jeder. Bislang ziemlich unbekannt dagegen ist das Schicksal von Menschen, die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ diffamiert und ebenfalls in Konzentrationslagern gequält und ermordet wurden. Sie rangierten in der Lager-Hierarchie ganz unten – und wurden nach dem Krieg nicht als NS-Opfer anerkannt. Sie seien ja zu Recht im KZ gewesen, hieß es.
dpa

Dass Juden, Roma, Sinti und Homosexuelle von den Nazis verfolgt wurden, weiß jeder. Bislang ziemlich unbekannt dagegen ist das Schicksal von Menschen, die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ diffamiert und ebenfalls in Konzentrationslagern gequält und ermordet wurden. Sie rangierten in der Lager-Hierarchie ganz unten – und wurden nach dem Krieg nicht als NS-Opfer anerkannt. Sie seien ja zu Recht im KZ gewesen, hieß es.

Obwohl sie aus wirtschaftlicher Not gehandelt hatte, wurde Erna Lieske 1937 vom Gericht als „gefährliche Gewohnheitsverbrecherin“ eingestuft. Im Urteil war davon die Rede, sie habe einen „unzähmbaren Hang zum Verbrechen“. Erna Lieske verbüßte eine dreijährige Freiheitsstrafe im Frauenzuchthaus Cottbus.

Der Anstaltsleiter stellte ihr eine gute Beurteilung aus: „Ihre Arbeit verrichtet sie mit Fleiß und zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten.“ Trotzdem lehnten es die NS-Behörden ab, sie nach Ende ihrer Haftzeit in die Freiheit zu entlassen. Stattdessen wurde sie in Sicherungsverwahrung genommen und 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie am 24. April 1943 – zwei Tage nach ihrem 43. Geburtstag – ermordet wurde.

Mit verschiedenfarbigen Winkeln kennzeichneten die Nazis die sogenannten „Schutzhaftgefangenen“ in den Konzentrationslagern. Sogenannte „Berufsverbrecher” trugen einen grünen Winkel auf der Häftlingskleidung, sogenannte „Asoziale“ einen schwarzen.
dpa

Mit verschiedenfarbigen Winkeln kennzeichneten die Nazis die sogenannten „Schutzhaftgefangenen“ in den Konzentrationslagern. Sogenannte „Berufsverbrecher“ trugen einen grünen Winkel auf der Häftlingskleidung, sogenannte „Asoziale“ einen schwarzen.

Dass in der NS-Zeit Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten im KZ saßen, weiß heute jeder. Auch, dass Homosexuelle sowie Roma und Sinti in Konzentrationslagern gefoltert und ermordet wurden, dürfte den meisten bekannt sein. Dass aber Menschen verfolgt und inhaftiert wurden, nur, weil sie nicht der sozialen Norm, dem Ideal der Nazis entsprachen, hat sich bislang kaum herumgesprochen. In keiner Geschichtsstunde ist davon die Rede.

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Dass in der NS-Zeit Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten im KZ saßen, weiß heute jeder. Dass Homosexuelle sowie Roma und Sinti in Konzentrationslagern gefoltert und ermordet wurden, dürfte den meisten ebenfalls bekannt sein. Dass auch Menschen verfolgt und inhaftiert wurden, nur, weil sie nicht der sozialen Norm, dem Ideal der Nazis entsprachen, hat sich bislang kaum herumgesprochen. In kaum einer Geschichtsstunde ist davon die Rede.

Weil Prostituierte als „Asoziale“ galten, kamen Sophie Gotthardt und Johanna Kohlmann ins KZ

Prostituierte aus der Herbertstraße, die von den Nazis als „Asoziale“ diffamiert, verfolgt und ins KZ geworfen wurden: Johanna Kohlmann (l.) und Sophie Gotthardt.
Landeswohlfahrtsverband Hessen

Prostituierte aus der Herbertstraße, die von den Nazis als „Asoziale“ diffamiert, verfolgt und ins KZ geworfen wurden: Johanna Kohlmann (l.) und Sophie Gotthardt.

Die Nazis waren überzeugt, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfügten über minderwertige Erbanlagen. Um zu verhindern, dass sie ihre angeblich kriminellen beziehungsweise asozialen Gene weitervererben und die „erbgesunde Volksgemeinschaft“ – so die Nazi-Terminologie – schädigen, wurden diese Menschen weggesperrt und „ausgemerzt“. Im KZ trugen „Berufsverbrecher“ einen grünen Winkel auf der Häftlingskleidung, „Asoziale“ einen schwarzen. In der KZ-Hierarchie standen sie weit unten und wiesen die höchste Sterblichkeitsrate auf. Selbst von ihren Mithäftlingen wurden sie oft verachtet.

Als „Berufsverbrecher“ galten Personen, die dreimal innerhalb von fünf Jahren verurteilt waren – meist handelte es sich um Personen, die sich lediglich kleinerer Eigentumsdelikte schuldig gemacht hatten. Zu den „Asozialen“ zählten Wohnungslose, Bettler, Landstreicher, Zuhälter, Fürsorgeempfänger, Wanderarbeiter und Hausierer. Aber auch Prostituierte wie die beiden Hamburgerinnen Sophie Gotthardt und Johanna Kohlmann, die in der Herbertstraße auf St. Pauli Sexarbeit leisteten.

Nach der Machtübernahme 1933 hatten die Nazis die faktische Straflosigkeit der Prostitution rückgängig gemacht und die Bewegungsfreiheit der Sexarbeiterinnen eingeschränkt. Die Polizei führte willkürlich Razzien durch. Allein zwischen März und Mai 1933 wurden in Hamburg 3201 „unzuchttreibende Frauen“ festgenommen, 814 Frauen kamen in sogenannte „Schutzhaft“.

Um der „Vergiftung des Volkskörpers“ Einhalt zu gebieten und die „Wehrkraft“ nicht zu gefährden, wurden mit Kriegsbeginn die Maßnahmen drastisch verschärft. Prostituierte durften sich nachts weder außerhalb der Wohnung noch tagsüber in bestimmten öffentlichen Räumen aufhalten. Sie mussten Umzüge melden, zudem „Schutzmittel“ benutzen und mehrfach pro Woche zum Abstrich auf Geschlechtskrankheiten beim Gesundheitsamt erscheinen.

Um sich diesen Kontrollen zu entziehen, flohen Sophie Gotthardt und Johanna Kohlmann – ein lesbisches Paar – nach Frankfurt. Dort wurden sie festgenommen und ins Frauen-KZ Ravensbrück in Brandenburg deportiert, später nach Auschwitz.

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Wie die Hamburger Historikerin Frauke Steinhäuser recherchierte, überlebten beide das NS-Regime, waren aber an Leib und Seele gebrochen. Weil Gotthardt als sogenannter „Funktionshäftling“ in Auschwitz Mitgefangene gequält haben soll, wurde sie 1948 in Polen als Kriegsverbrecherin verurteilt. 1956 erlag sie mit 38 Jahren einer Tuberkulose-Erkrankung, während Johanna Kohlmann – zu 80 Prozent erwerbsunfähig und mittellos – vier Jahre später starb.

Als sogenannter „Berufsverbrecher” wurde er von den Nazis zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und wurde ins KZ Esterwegen ins Emsland deportiert: Franz Walter.
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Als sogenannter „Berufsverbrecher“ wurde er von den Nazis zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und wurde ins KZ Esterwegen ins Emsland deportiert: Franz Walter.

Den wohl spektakulärsten Fall eines sogenannten „Berufsverbrechers“ hat die 59-jährige Hamburgerin Irmgard Fuchs recherchiert. Es handelt sich um das Schicksal ihres eigenen Vaters Franz Walter. Während andere NS-Verfolgte Bücher über ihre Zeit im KZ schrieben und Interviews gaben, hat er nach dem Krieg geschwiegen – aus gutem Grund, denn ihm wäre bestenfalls Verachtung entgegengeschlagen.

Franz Walter, geboren 1899, schlug sich Anfang der 1930er Jahre als reisender Vertreter für Tee, Hausschuhe, Krawatten und Hygieneartikel durch. Aus wirtschaftlicher Not prellte er die Zeche, ein Darlehen konnte er nicht zurückzahlen und wurde 1934 zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt.

Unschuldig zu zehn Jahren Haft verurteilt: Franz Walter überlebte das KZ Esterwegen

Franz Walter hatte eine Lehre in einer Apotheke gemacht hat und gab sich deshalb als Homöopath und Arzt aus – was ihm zum Verhängnis wurde, als die Polizei nach einem „falschen Arzt“ suchte, der einer jungen Frau durch Falschbehandlung Schaden zugefügt hatte. Obwohl das Opfer ihn nicht identifizieren konnte und er sich nachweislich zum Tatzeitpunkt an einem ganz anderen Ort aufgehalten hatte, stellte die Staatsanwaltschaft Franz Walter vor Gericht. Er wurde 1937 in einem spektakulären Prozess zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, kam ins KZ Esterwegen im Emsland, musste Zwangsarbeit leisten.

Aufgehoben wurde das Unrechtsurteil nie. Die Briten befreiten ihn 1945 aus der Haft, aber die Staatsanwaltschaft war bis in die 50er Jahre der Meinung, er müsse noch seine Reststrafe von eineinhalb Jahren absitzen.

Sie wollen das Unrecht öffentlich machen, das sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ in der NS-Zeit widerfuhr: Professor Frank Nonnenmacher aus Frankfurt und die Hamburgerinnen Irmgard Fuchs (59, M.) und Liane Lieske (70). Alle drei Angehörige bzw. Nachfahren von Betroffenen.
Bettina Blumenthal

Sie wollen das Unrecht öffentlich machen, das sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ in der NS-Zeit widerfuhr: Professor Frank Nonnenmacher aus Frankfurt und die Hamburgerinnen Irmgard Fuchs (59, M.) und Liane Lieske (70). Alle drei Angehörige bzw. Nachfahren von Betroffenen.

Eine Anerkennung als NS-Opfer und eine Entschädigung blieb ihm versagt – so wie nahezu allen anderen vermeintlich „Asozialen“ und angeblichen „Berufsverbrechern“ auch. Sie seien nicht politisch oder rassisch verfolgt worden und hätten zu Recht im KZ gesessen, so die allgemeine Rechtsauffassung nach dem Krieg.

Angesichts dessen, was er durchgemacht habe, grenze es an ein Wunder, sagt Irmgard Fuchs, die Tochter, „dass er für mich ein so liebevoller Vater war und immer ein fröhlicher Mensch geblieben ist.“

Angehörige kämpfen um die Rehabilitierung der verleugneten NS-Opfer

Erst 2020, 75 Jahre nach Kriegsende, zu einem Zeitpunkt also, als die meisten der Betroffenen längst tot waren, stimmten im Bundestag alle demokratischen Parteien für die Anerkennung der so lange verleugneten NS-Opfer. Vorausgegangen war eine Petition, die von Angehörigen eingereicht und von 20.000 Menschen unterschrieben worden war. Der wichtigste Satz im Beschluss des Bundestages lautet: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.“

Im Frühjahr ist dieses Buch erschienen. In dem von Professor Frank Nonnenmacher herausgegebenen Band schildern 20 Angehörige das Schicksal von NS-Opfern, die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ gebrandmarkt worden waren. Campus-Verlag, 372 Seiten, 29 Euro
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Im Frühjahr ist dieses Buch erschienen. In dem von Professor Frank Nonnenmacher herausgegebenen Band schildern 20 Angehörige das Schicksal von NS-Opfern, die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ gebrandmarkt worden waren. Campus-Verlag, 372 Seiten, 29 Euro

Inzwischen haben Angehörige und Nachfahren einen Verein gegründet: Der „Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ (VEVON) verfolgt das Ziel, die Opfer zu rehabilitieren und ihnen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben. Aufklärung soll auch das Buch leisten, das der 1. Vorsitzende Frank Nonnenmacher (80), emeritierter Professor für Sozialwissenschaften aus Frankfurt, Anfang 2024 herausgegeben hat.

Darin schildern Nachfahren das Unrecht, das den verleugneten NS-Opfern widerfahren ist. Zu den 20 bewegenden Schicksalen zählen die Biografien von Franz Walter und Erna Lieske. Das Buch , das den Titel „Die Nazis nannten sie ,Asoziale‘ und ,Berufsverbrecher‘“ trägt, thematisiert nicht nur die eigentliche Verfolgung, sondern auch die fortgesetzte gesellschaftliche Stigmatisierung nach 1945 und das Schweigen aus Scham innerhalb der Familien.

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