Als die ganze Welt nach Ottensen blickte: Erbitterter Streit um einen Friedhof

Als die ganze Welt nach Ottensen blickte: Erbitterter Streit um einen Friedhof

Wer derzeit das „Mercado“ in Ottensen besucht und den Blick nach oben richtet, wird mit der Stirn runzeln und sich wundern. Denn über dem sogenannten „Marktplatz“, dem Herzen des Einkaufszentrums, hängt ein riesiges Banner, ein zwei mal vier Meter großes Comicbild, das für sich alleine genommen kaum Sinn ergibt. Ein Mann und eine Frau sind da abgebildet. „Was ist da denn los?“, fragt die Frau. Der Mann antwortet: „Die Große Rainstraße ist gesperrt!“ Ende. Mehr erfährt der Betrachter nicht. Es ist ein Rätsel. Hier finden Sie die Lösung.

Dass die Passanten anfangen zu grübeln und darüber nachdenken, was dahintersteckt, ist genau das, was die Künstlerin erreichen will. Es handelt sich um die Hamburgerin Yohana R. Hirschfeld, Malerin und Graphic-Novel-Autorin mit jüdischen Wurzeln. Sie möchte mit ihrem Bild, das Teil eines umfangreichen Comicbuchs ist, an einen Konflikt erinnern, der vor mehr als 30 Jahren Ottensen in Atem hielt – ach was, die halbe Welt.

Hängt aktuell über dem „Marktplatz“, dem Herz des „Mercado“: ein rätselhaftes riesiges Comic-Bild. Rechts daneben, fast nicht zu erkennen, die Künstlerin Yohana R. Hirschfeld.
Quandt

Hängt aktuell über dem „Marktplatz“, dem Herz des „Mercado“: ein rätselhaftes riesiges Comic-Bild. Rechts daneben, fast nicht zu erkennen, die Künstlerin Yohana R. Hirschfeld.

Erinnern Sie sich noch? Im Frühjahr 1992 spielten sich auf einer Baustelle an der Ottenser Hauptstraße – dort, wo heute das Mercado steht – unschöne Szenen ab. Orthodoxe Juden, die sich an Absperrgitter klammerten und sich lautstark und erbittert dagegen wehrten, von Hamburger Polizisten weggetragen zu werden. Bilder, die um die Welt gingen und dem Ansehen Hamburgs schadeten. Der traurige Höhepunkt eines verbissen ausgetragenen Konflikts um einen vergessenen jüdischen Friedhof.

1992 berichten Zeitungen weltweit über den Monate währenden Konflikt

Dieser Friedhof wurde 1663 zwischen der Großen Rainstraße und der Ottensener Hauptstraße errichtet. Knapp 300 Jahre später enteigneten die Nationalsozialisten das Areal und errichteten darauf einen Luftschutzbunker. Zwar wurde das Grundstück 1950 an die Jüdische Gemeinde zurückgegeben, aber sie verkaufte es aus Geldmangel an den Hertie-Konzern. Die wenigen gut erhaltenen Gräber wurden nach Ohlsdorf versetzt, dann wurde auf dem Gelände ein Warenhaus errichtet. Die unterirdischen Reste des Friedhofs gerieten in Vergessenheit.

Ab Herbst 1991 wird das alte Hertie-Kaufhaus abgerissen. Dabei stoßen die Arbeiter auf Knochen und Grabsteinfragmente. Damit beginnt der Konflikt.
Neuhauser

Ab Herbst 1991 wird das alte Hertie-Kaufhaus abgerissen. Dabei stoßen die Arbeiter auf Knochen und Grabsteinfragmente. Damit beginnt der Konflikt.

Rund 40 Jahre später, im Jahr 1991, befand sich das Areal im Besitz des Hamburger Großinvestors Büll & Liedtke, der das alte Hertie-Kaufhaus, das seit 1990 geschlossen war, abreißen wollte, um ein neues zu bauen. Der Investor wurde von den Behörden verpflichtet, sich mit der Jüdischen Gemeinde und dem Denkmalschutzamt darüber abzustimmen, wie mit den Grabstätten im Boden  umzugehen sei. Noch bevor die Baugenehmigung erteilt wurde, stimmte Landesrabbiner Nathan Peter Levinson der Umbettung der Toten unter der Bedingung zu, dass Ausschachtungsarbeiten in Anwesenheit eines Experten aus Israel durchgeführt würden. Alles schien damit geklärt.

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Als dann aber während des Abrisses des alten Hertie-Kaufhauses im Herbst 1991 Bruchstücke von Grabsteinen und menschliche Knochenreste an die Oberfläche kamen, da begann der Konflikt. Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, schaltete sich ein, wandte sich an Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) und kritisierte öffentlich die Pläne. „Der gläubige Jude empfindet Zerstörung und Aufhebung eines Friedhofs als schmerzhafteste Tat“, so Galinski. „Jede Verletzung oder Exhumierung von Gebeinen bedeutet einen Schmerz der Seele im Himmel.“

Der Streit um die Neubebauung des Geländes nahm nun von Tag zu Tag an Schärfe zu und verlagerte sich auf die internationale Ebene: Mitglieder der Gruppe Athra Kadisha, einer sehr gut vernetzten weltweiten Gemeinschaft strenggläubiger Juden „zur Erhaltung heiliger jüdischer Stätten“, reisten aus den USA, Belgien, England, Israel und Kanada an, besetzten alle paar Tage aufs Neue die Baustelle, sangen, beteten, klagten oder zogen protestierend durch den Stadtteil.

Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski.
dpa

Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski

Jüdische Gemeinden in Brüssel, São Paulo, Jerusalem, Antwerpen und New York schickten Protestnoten. Zeitungen auf der ganzen Welt berichteten. In New York, Canberra, London und Antwerpen gingen Menschen auf die Straße. Selbst der stellvertretende US-Außenminister Lawrence Eagleburger und 34 Kongressabgeordnete mischten sich ein, appellierten an Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), etwas gegen den Neubau zu unternehmen. 

Das Argument, dass es doch Hamburgs Jüdische Gemeinde war, die die Fläche 1950 veräußert hatte, besänftigte die Kritiker nicht. Der Verkauf sei – jedenfalls nach jüdischem Recht – illegal gewesen und damit nichtig. 

Höhepunkt der Auseinandersetzung war der 29. April 1992, als die Polizei einen Sitzstreik orthodoxer Juden in der Großen Rainstraße auflösen musste.  Drei Tage später, am 2. Mai 1992, verschafften sich mehrere Hundert jüdische Demonstranten dank eines Lochs im Bauzaun Zutritt zum Baugrundstück. Männer mit Bärten, schwarzen Hüten, dunklen Seidenmänteln und Lockenzöpfen warfen sich auf den Boden, setzten sich auf Baggerschaufeln und begannen zu beten. Wieder musste die Polizei einschreiten. 

Historisches Foto des Jüdischen Friedhofs Ottensen. Unter anderem ist dort Salomon Heine (1767-1844) beigesetzt, der Onkel des Dichters Heinrich Heine.
MOPO-Archiv

Historisches Foto des Jüdischen Friedhofs Ottensen. Unter anderem ist dort Salomon Heine (1767-1844) beigesetzt, der Onkel des Dichters Heinrich Heine.

Es folgten dramatische Wochen: Erst erstattete ein Schweizer Anwalt Strafanzeige wegen Störung der Totenruhe. Dann untersagte das Verwaltungsgericht Hamburg den Fortgang der Bauarbeiten. Daraufhin bot das Unternehmen Büll & Liedtke das strittige Grundstück über einen Londoner Vermittler für 30 Millionen Mark zum Rückkauf an – auf jüdischer Seite konnte diese Summe aber niemand aufbringen.

Schweizer Anwalt erstattet Anzeige wegen Störung der Totenruhe – die Baustelle wird stillgelegt

In dieser Lage bat Landesrabbiner Dr. Nathan Peter Levinson im April 1992 um eine rituell durchgeführte Exhumierung. Dem widersprach jedoch Athra Kadisha vehement. Eine Exhumierung sei ein eindeutiger Bruch jüdischen Rechts. Die Fronten des Konfliktes hatten sich inzwischen verschoben. Nun stritten nicht mehr nur Juden und Nichtjuden, auch Juden untereinander diskutierten über den richtigen Weg.

Orthodoxe Juden blockieren in Ottensen eine Straße, um gegen den Bau des Mercado auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofes zu protestieren.
dpa

Orthodoxe Juden blockieren in Ottensen eine Straße, um gegen den Bau des Mercado auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofes zu protestieren.

Und der Hamburger Senat? Der befand sich in einer äußerst misslichen Lage. Er hatte überhaupt keine Handhabe. Die Baugenehmigung fürs Mercado war erteilt. Sie wieder zurückzuziehen, war unmöglich. Trotzdem musste irgendwas geschehen, denn die Stadt konnte vor den weltweiten Protesten nicht einfach die Augen verschließen.

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So kam es dazu, dass im Mai 1992 der Hamburger Senat, Athra Kadisha und Büll & Liedtke gemeinsam den Jerusalemer Oberrabbiner Itzhak Kolitz darum baten, als Vermittler zu fungieren. Kolitz präsentierte schließlich einen Kompromissvorschlag, mit dem alle leben konnten: Zwar durfte das Einkaufszentrum gebaut werden, aber der Bauherr musste sich verpflichten, die Gräber und das Erdreich des Friedhofs unangetastet zu lassen. Das bedeutete: keine Ausschachtungsarbeiten. Statt einer Tiefgarage musste ein Parkhaus errichtet werden.

Der Jerusalemer Oberrabbiner Itzhak Kolitz wird als Vermittler eingesetzt

Es stellte sich bald heraus, dass von den im Jahr 1900 vorhandenen 4500 Gräbern noch 400 bis 500 existierten. Sie blieben im Erdreich zurück und verschwanden „auf ewig“ unter einer schützenden Betonschicht. Ein von Oberrabbiner Kolitz bestellter ständiger Aufseher aus Israel überwachte den gesamten Prozess.

Demonstranten haben die Baustelle besetzt – Polizeibeamte tragen sie weg.
dpa

Demonstranten haben die Baustelle besetzt – Polizeibeamte tragen sie weg.

Nach zweijährigen Bauarbeiten war im Herbst 1995 das Gebäude fertig. Die Baukosten hatten sich deutlich erhöht – dafür stand die Stadt gerade: Sie entschädigte den Bauträger, indem sie ihm zwei andere Grundstücke in bester Lage billiger verkaufte. Rund 16 Millionen Mark ließ die Stadt sich das kosten.

Es ist dieser monatelange Kampf um den jüdischen Friedhof Ottensen, an den das Banner erinnert, das derzeit über dem Marktplatz im Mercado hängt. Die Szene spielt in jenen unruhigen Tagen, als ein Polizeieinsatz die Besetzung des Bauplatzes durch ultraorthodoxe Aktivisten beendete. Nun wissen auch Sie, warum die Große Rainstraße damals gesperrt war.

Die Kunstaktion entstand in Kooperation mit dem Altonaer Museum anlässlich der Sonderausstellung „Glauben und glauben lassen“ (noch bis zum 15. Juli). Das Plakat wird noch bis zum 27. April im „Mercado“ hängen bleiben.

Die Hamburger Künstlerin Yohana R. Hirschfeld. Im Hintergrund: der riesige Comic, der derzeit im „Mercado“ hängt 
Quandt

Die Hamburger Künstlerin Yohana R. Hirschfeld. Im Hintergrund: der riesige Comic, der derzeit im „Mercado“ hängt 

Die Künstlerin und ihre „Graphic Novel“: Ein Comic-Roman zum Friedhofsstreit

Yohana R. Hirschfeld hat zum Streit über den jüdischen Friedhof Ottensen nicht nur ein Bild, sondern gleich eine ganze Graphic Novel gezeichnet, die sich mit den Auseinandersetzungen beschäftigt: „Eine Altonaer Legende“. Hirschfeld, die Zeitzeugin des Konflikts ist, arbeitet an ihrem Buch bereits seit zehn Jahren.

Sie erzählt in dem Buch die fiktive Geschichte von Noemi Delmar, die nach längerem Auslandsaufenthalt in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist. Sie ist Jüdin, aber säkular aufgewachsen. Durch die Konfrontation mit dem radikalen Aktivismus der Athra Kadisha muss sie sich mit der Frage auseinandersetzen, was jüdische Identität für sie bedeutet und wie jüdisches Leben in Deutschland möglich ist.

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Die Graphic Novel trägt autobiografische Züge, denn auch für Yohana R. Hirschfeld wurde die Debatte über den Friedhof zu einem Selbstfindungsprozess. „Erst mit 30 habe ich angefangen, mich wirklich dafür zu interessieren, dass ich jüdisch bin“, sagt sie. Heute sei ihre jüdische Identität ein „Lebensthema“.

Auf Gedenktafeln im „Mercado“ stehen im Untergeschoss die Namen von 4500 Menschen, die auf dem Friedhof bestattet wurden.
Quandt

Auf Gedenktafeln im „Mercado“ stehen im Untergeschoss die Namen von 4500 Menschen, die auf dem Friedhof bestattet wurden.

Leider kann Hirschfelds „Graphic Novel“ bislang käuflich nicht erworben werden. Die Künstlerin ist gerade auf der Suche nach einem Verlag.

Als die ganze Welt nach Ottensen blickte: Erbitterter Streit um einen Friedhof wurde gefunden bei mopo.de

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