Bekämpft, verbrannt, geliebt: Vor 125 Jahren eröffnete Hamburgs erste Bücherhalle

Bekämpft, verbrannt, geliebt: Vor 125 Jahren eröffnete Hamburgs erste Bücherhalle

Vor 125 Jahren wurden sie gegründet: Die Hamburger Bücherhallen, das größte kommunale Bibliothekssystem in Deutschland. Die MOPO lässt die Geschichte dieser bedeutenden Hamburger Kultureinrichtung Revue passieren: Wir berichten über die Eröffnung des ersten Standorts in der Straße Kohlhöfen in der Neustadt – damals durften die Nutzer noch nicht selbst an die Regale herantreten, sondern konnten nur Bestellungen aufgeben. Wir berichten über die Nazi-Zeit, als ein Viertel des Bücherbestandes als „undeutsch“ und „entartet“ auf den Scheiterhaufen landete. Wir erinnern an Eduard Hallier, den Gründervater der Bücherhallen und seine sozialreformerischen Ideen, aber auch an Hedda Guradze, eine Bibliothekarin jüdischer Abstammung, die 1937 ihren Job verlor, in die USA emigrierte und sich 1945 das Leben nahm, als sie erfuhr, was die Nazis in der Heimat mit ihrer Mutter gemacht hatten.

Wie die Zeiten sich doch ändern! Heute beklagen sich Pädagogen und Politiker häufig darüber, dass sich die Jugend zu viel mit dem Smartphone beschäftigt. Mehr lesen! So lautet eine oft gestellte Forderung. Im 19. Jahrhundert dagegen, als immer mehr Menschen das Buch für sich entdeckten, wurde das Lesen regelrecht verteufelt. Von „Lesesucht“ und „Lesewut“ und den damit verbundenen Gefahren war die Rede. Firmeninhaber fürchteten, ihre Angestellten könnten in der Arbeitszeit heimlich schmökern und ihre Pflichten vernachlässigen. Daneben war die Sorge weit verbreitet, Bücher würden den Zeitgenossen revolutionäre Ideen in die Hirne einpflanzen.

An der Straße Kohlhöfen wurde 1899 die erste Hamburger Bücherhalle eröffnet: Hier der 1910 errichtete Nachfolgebau.
Staatsarchiv Hamburg

An der Straße Kohlhöfen wurde 1899 die erste Hamburger Bücherhalle eröffnet: Hier der 1910 errichtete Nachfolgebau.

Entsprechend groß waren die Widerstände, mit denen die Anhänger der sogenannten Bücherhallenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zu kämpfen hatten. Das Anliegen dieser Sozialreformer war es, die Bildung der Bevölkerung zu verbessern. Sie regten an, in allen größeren Städten öffentliche Bibliotheken zu gründen. Das sei, so argumentieren sie, auch im Interesse der Kommunen, denn: Je belesener die Bürger, desto weniger Kriminalität und Alkoholismus gebe es, und auch die Kosten für die Armenpflege würden sinken. 1893 wurde in Freiburg die erste öffentliche Bücherhalle eröffnet. Frankfurt/Main, Berlin, Jena und Essen zogen nach, und am 2. Oktober 1899, also vor 125 Jahren, war es dann auch in Hamburg so weit.

Eröffnung der ersten Hamburger Bücherhalle war ein Ereignis

Die Einweihung der Bücherhalle an der Straße Kohlhöfen in der Neustadt war ein aufsehenerregendes Ereignis. Am Eröffnungstag drängelten sich in den vier frei zugänglichen Leseräumen im Erdgeschoss 420 Menschen, in der ganzen ersten Woche kamen rund 3400 Neugierige.

Wer nicht vor Ort lesen, sondern Bücher ausleihen wollte, der musste die Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen, wo sich das Magazin mit zunächst 6000 Bänden befand. An einem Schalter äußerte der Besucher seinen Wunsch, und ein Bibliotheksangestellter händigte das gewünschte Buch aus, falls es verfügbar war. Direkt an die Regale heranzutreten und sich ein Buch auszusuchen, war nicht möglich. Die Bibliothekare wollten Kontrolle darüber behalten, wer was las.

Bis ins 19. Jahrhundert gab es keine allgemein zugänglichen Bibliotheken in Hamburg

Schon seit dem 15. Jahrhundert hatte es Bibliotheken in Hamburg gegeben. Die älteste war die 1481 eröffnete Ratsbibliothek – der Vorläufer der heutigen Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky. Aber sie stand lediglich Gelehrten offen. Selbst wenn sie öffentlich zugänglich gewesen wäre, hätte es wenig genützt: Die Bestände waren rein wissenschaftlich orientiert. Kaum das richtige Angebot also für ein breites Publikum.

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Da es also eine allgemein zugängliche öffentliche Bibliothek noch nicht gab, waren Hamburgs Leseratten darauf angewiesen, sich bei kommerziellen Leihbibliotheken, von denen um 1848 bereits 20 in der Stadt existierten, mit Lesestoff zu versorgen. Gefragt waren zu jener Zeit vor allem Abenteuer- und Reiseliteratur. Das Interesse an fremden Ländern und Kontinenten war groß, und wenn der Durchschnittsbürger schon nicht die Gelegenheit hatte, sie selbst zu bereisen, so konnte er sie dank der Bücher wenigstens in der Fantasie besuchen.

Gründervater der Bücherhallen: der Jurist Eduard Hallier (1866-1959).
Staatsarchiv Hamburg

Gründervater der Bücherhallen: der Jurist Eduard Hallier (1866-1959).

Die Bücherhallenbewegung, die in den 1890er Jahren entstand, setzte sich zum Ziel, die einfache Bevölkerung an wertvolle Literatur heranzuführen und sie von all dem Schund fernzuhalten, den es auf dem Büchermarkt damals auch schon gab. Die wichtigsten Repräsentanten waren der Wiener Universitätsprofessor Eduard Reyer, der auf Studienreisen die großen öffentlichen Bibliotheken Englands und Amerikas, die sogenannten „Public Libraries“, kennengelernt hatte, und der Kieler Bibliothekar Constantin Nörrenberg, der ein Konzept für eine Bibliotheksreform in Deutschland entwickelte.

In Hamburg griff der Anwalt Eduard Hallier ihre Ideen auf und begann, nach Geldgebern zu suchen. Das gestaltete sich schwierig, denn viele reiche Kaufleute und Reeder hielten gar nicht so viel von dem Vorhaben, einfache Leute mit Büchern zu versorgen: Es gab immer noch die weit verbreiteten Vorurteile gegen das Lesen. Als es Hallier aber gelang, den Vorstand der Patriotischen Gesellschaft auf seine Seite zu ziehen, war der Durchbruch geschafft. Diese älteste zivilgesellschaftlich engagierte Organisation im deutschsprachigen Raum rief die sogenannte „Commission für die öffentliche Bücherhalle“ ins Leben, deren Vorsitz Hallier übernahm.

Der Sozialreformer Eduard Hallier hatte die Idee, die Hamburger Bücherhallen zu gründen

Daraufhin erklärten sich auch die Stadtväter bereit, das Projekt zu unterstützen. Sie stellten eine beträchtliche Summe Geld und eine leerstehende Immobilie zu Verfügung. Das Gebäude an der Straße Kohlhöfen befand sich allerdings in einem so erbärmlichen Zustand, dass Hallier mit einem öffentlichen Skandal drohte für den Fall, dass die Stadt sich weigere, die Kosten für die Renovierung zu übernehmen. Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg war zwar stinksauer über diesen Erpressungsversuch, lenkte am Ende aber ein.

Ehemalige Volkslesehalle an der Mönckebergstraße, erbaut 1914 von Fritz Schumacher und bis 1971 Zweigbibliothek „Mitte“. Seither wird das Gebäude gastronomisch genutzt.
Staatsarchiv Hamburg

Ehemalige Volkslesehalle an der Mönckebergstraße, erbaut 1914 von Fritz Schumacher und bis 1971 Zweigbibliothek „Mitte“. Seither wird das Gebäude gastronomisch genutzt.

Der Erfolg der ersten Hamburger Bücherhalle war riesig. Im Jahr 1900, ein halbes Jahr nach Eröffnung, zog die Patriotische Gesellschaft erstmals Zwischenbilanz: Die kühnsten Erwartungen wurden übertroffen: 45.000 Besucher wurden im Lesesaal gezählt, knapp 35.000 Bücher waren ausgeliehen worden. Sogar eine Statistik über die soziale Stellung der Besucher gab es: Neben Kaufleuten, Beamten und Lehrern hatten immerhin auch 190 Arbeiter, 144 Techniker, 137 Lehrlinge und 150 Boten, Laufburschen et cetera die Bücherhalle genutzt.

Nach und nach kamen bald weitere Standorte hinzu: 1903 wurde in den Räumen der Markthalle auf dem Pferdemarkt (heute Gerhart-Hauptmann-Platz) die zweite Bücherhalle eröffnet, 1905 am Billhorner Mühlenweg in Rothenburgsort die dritte, 1909 im ersten Stock des Bartholomäusbades in Barmbek die vierte und 1912 die fünfte in der Badeanstalt in Hammerbrook. Mit zwei Millionen jährlichen Ausleihen entwickelten sich die Bücherhallen am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu einer der wichtigsten Kulturinstitutionen der Stadt.

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Wie schon erwähnt, blieb den Lesern der direkte Zugang zum Buchbestand anfangs verwehrt. Sie mussten sich mit ihren Wünschen an die Bibliothekare wenden. Um sich über den verfügbaren Bestand zu informieren, stand den Bibliotheksnutzern aber ab 1904 immerhin ein sogenannter Indikator zur Verfügung. Dabei handelte es sich um eine hölzerne Stellwand, die sich zwischen Magazin und Publikumsraum befand. Die Bibliothekare schoben hölzerne Klötzchen mit den aufgedruckten Buchtiteln in die Fächer – und die Besucher konnten durch eine Glasscheibe erkennen, welche Bücher vorrätig waren.

Freihand-Ausleihe, wie sie in England und den USA längst üblich war, wurde in Hamburg erst 1910 eingeführt

In England und Amerika waren die Bibliotheken zu jener Zeit schon weiter: Dort hatte sich längst das Freihandsystem durchgesetzt. In Hamburg mussten die Leser auf die Freiheit, sich ihre Bücher selbst aus dem Regal ziehen zu dürfen, noch bis zum 15. Januar 1910 warten: In der neu gebauten Bücherhalle am alten Standort an der Straße Kohlhöfen ging an diesem Tag die erste deutsche Freihand-Ausleihe in Betrieb. Obwohl der freie Zugriff zunächst auf belehrende Literatur beschränkt blieb – die schöngeistige wurde erst ab 1933 freigegeben – war dies ein Ereignis, das von vielen Hamburgern als ähnlich aufregend empfunden wurde wie die Einführung der Selbstbedienungsläden nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ab 1904 konnten sich die Bibliotheksnutzer mit Hilfe sogenannter „Indikatoren“ darüber informieren, welche Bücher vorhanden sind und eine Bestellung vornehmen. Bibliothekare händigten die Bücher aus.
Staatsarchiv Hamburg

Ab 1904 konnten sich die Bibliotheksnutzer mit Hilfe sogenannter „Indikatoren“ darüber informieren, welche Bücher vorhanden sind und eine Bestellung vornehmen. Bibliothekare händigten die Bücher aus.

Als 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wurde, unterwarfen sich die Hamburger Bücherhallen den neuen Machthabern widerspruchslos. In vorauseilendem Gehorsam begannen die Bibliothekare bereits im März 1933, also zwei Monate vor den berüchtigten Bücherverbrennungen, damit, die Bestände von vermeintlich „entarteten“ jüdischen, linken und liberalen Werken zu säubern. Zigtausende Bücher – insgesamt rund ein Viertel des Gesamtbestandes – wurden in der NS-Zeit aussortiert und vernichtet. 

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Hauptverantwortlicher dafür war Dr. Albert Krebs, der in den 20er Jahren als Gauleiter die Hamburger NSDAP geführt hatte und 1934 die Leitung der Bücherhallen übernahm. Er ordnete ihre „Umstellung auf die Grundsätze und Erfordernisse der nationalsozialistischen Weltanschauung“ an. Ab 1938 prangte an den Eingängen der Hinweis: „Juden unerwünscht!“ Schon ab 1935, dem Jahr, in dem die Nürnberger Rassegesetze in Kraft traten, begann Krebs damit, sämtliche jüdische Mitarbeiter vor die Tür zu setzen.

Am 15. Mai 1933 verbrannten Hamburger Studenten, die zumeist der SA angehörten, am Kaiser-Friedrich-Ufer Bücher sogenannter „undeutscher“ Autorinnen und Autoren. Die Verbrennung war Teil einer demonstrativen, reichsweiten Aktion.
bpk

Am 15. Mai 1933 verbrannten Hamburger Studenten, die zumeist der SA angehörten, am Kaiser-Friedrich-Ufer Bücher sogenannter „undeutscher“ Autorinnen und Autoren. Die Verbrennung war Teil einer demonstrativen, reichsweiten Aktion.

Besonders dramatisch war das Schicksal der 1904 in Kiel geborenen Bibliothekarin Hedda Guradze. Sie war christlich getauft und kämpfte deshalb jahrelang vergeblich um Anerkennung als „Arierin“. 1937 musste auch sie ihren Dienst in den Bücherhallen quittieren. Aufgrund anhaltender Diskriminierung und Ausgrenzung bekam sie eine schwere Depression. 1939 gelang es ihr zwar, in die USA auszuwandern, aber ihr Zustand besserte sich nicht. 1945 nahm sie sich in Cambridge das Leben. Kurz zuvor hatte sie erfahren, dass ihre Mutter von den Nazis im Ghetto Theresienstadt ermordet worden war. Außerdem war ihr Antrag, US-Bürgerin zu werden, abgelehnt worden.

Im Krieg wurden viele Bücherhalle schwer beschädigt oder zerstört

In Hamburg endete die NS-Zeit mit dem Einmarsch britischer Truppen am 3. Mai 1945. In den Jahren zuvor waren bei Luftangriffen viele Bücherhallen schwer beschädigt oder zerstört worden und rund 80.000 Bücher im Feuersturm in Flammen aufgegangen. Weitere 37.000 Titel mussten nun auf Anordnung der Alliierten aussortiert und vernichtet werden – antisemitische Kampfschriften, „Blut und Boden“-Literatur und kriegsverherrlichende Romane. Mit dieser Entnazifizierung der Bestände wurde – es ist kaum zu glauben – ausgerechnet NSDAP-Funktionär Albert Krebs betraut, also der Mann, der die Bücherhallen in den 30er Jahren von „entarteten“ Werken hatte säubern lassen.

Bibliothekarin Hedda Guradze: Wegen ihrer jüdischen Herkunft 1937 entlassen. Sie nahm sich 1945 aus Verzweiflung das Leben.
Privatbesitz Irene Below

Bibliothekarin Hedda Guradze: Wegen ihrer jüdischen Herkunft 1937 entlassen. Sie nahm sich 1945 aus Verzweiflung das Leben.

Im September 1945 öffneten die ersten Bücherhallen wieder ihre Pforten. Das Angebot war allerdings dürftig: Nur noch 165.000 Bücher standen zur Verfügung – im Durchschnitt entfiel also auf jeden zehnten Hamburger wenig mehr als ein Band. Weil Bücher auf dem Schwarzmarkt als Tauschmittel heiß begehrt waren, kam es zu zahlreichen Diebstählen. Die Bücherhallen sahen sich gezwungen, zur Thekenausleihe zurückzukehren.

Mit 1,7 Millionen Medien und rund 3,8 Millionen Besuchern jährlich das größte kommunale deutsche Bibliothekssytem

Die Währungsreform 1948 sorgte für Entspannung auf dem Buchmarkt. Die Hamburger Bücherhallen konnten damit anfangen, ihre Bestände wieder planmäßig aufzubauen. In ihrem Selbstverständnis knüpften sie nahtlos an die Weimarer Republik an. Allen Einwohnern Hamburgs „das gute Schrifttum durch leistungsfähige Büchereien zugänglich zu machen“, so lautete das selbstgesteckte Ziel.

Seit 2004 ist das ehemalige Bahnpostamt Hühnerposten neue Zentralbibliothek der Bücherhallen.
Michael Zapf

Seit 2004 ist das ehemalige Bahnpostamt Hühnerposten neue Zentralbibliothek der Bücherhallen.

Heute, fast 80 Jahre danach, sind die Bücherhallen mit einem Bestand von 1,7 Millionen Medien und rund 3,8 Millionen Besuchern jährlich das größte kommunale Bibliothekssystem in Deutschland. Neben der Zentralbibliothek am Hühnerposten gibt es 32 Stadtteilbibliotheken und zwei Bücherbusse für ländliche Außenbezirke. Außerdem organisieren die Bücherhallen den Betrieb von fünf Gefängnisbibliotheken. Neben Büchern gehören längst auch elektronische Medien zum Angebot. Die Hamburger Bücherhallen, die seit 1919 von einer gemeinnützigen Stiftung getragen werden, passen sich permanent dem sich verändernden Medienkonsum an.

Bekämpft, verbrannt, geliebt: Vor 125 Jahren eröffnete Hamburgs erste Bücherhalle wurde gefunden bei mopo.de

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