Chefin von Kiez-Kiosk: Ich habe jeden Abend geweint

Chefin von Kiez-Kiosk: Ich habe jeden Abend geweint

Sie war so was wie der Dorfplatz des Kiezes. Abhängen an der „Esso“: Absoluter Kult. Nachdem die Tanke unweit des Spielbudenplatzes abgerissen wurde, suchten die Leute einen anderen Ort. Und fanden ihn. Nur sehr viel kleiner. Den Kiosk „Mittenmang“ an der Davidstraße, liebevoll die „kleine Esso“ vom Kiez genannt. Für Chefin Mareike Dere (54) eine große Ehre, mit der sie nicht gerechnet hätte. Verließ sie den Laden anfangs doch keinen Abend, ohne zu weinen. Die flippige Frau mit dem wilden Lockenkopf berichtet über den Ärger um die Kioske auf dem Kiez, das Geschäft in der gegenüberliegenden Herbertstraße, die Teenie-Droge Lachgas und Engländer im Peniskostüm.

Vor der Fensterfront rote Blumenkästen mit Hornveilchen. Drinnen akkurat aufgereihte Waren in weißen Holzregalen, schwarz-weiß gekachelter Boden, an den Wänden Hamburg-Malereien. Braune Wohnzimmerlampen sorgen für gedämpftes Licht. Dazu spielt leise Musik. Zwei junge Frauen kommen herein. „Wow, deine Haare. Du siehst toll aus“, sagt die eine. Mareike bedankt sich lächelnd. Sie hat die Frau noch nie gesehen. Die andere allerdings kennt sie. Eine Dame aus der Herbertstraße. Häufig kommen die Frauen rüber, kaufen oder bestellen spezielle Zigaretten, manche verweilen ein wenig und berichten von ihrem Tag. Mareike mag die kleinen Schnacks zwischendurch.

Dass sie ihre Arbeit irgendwann genießen könnte – anfangs unvorstellbar für die Kiosk-Chefin. Nachdem sie eine Ausbildung zur Erzieherin und Tanz-, Sport- und Gymnastiklehrerin gemacht hatte, war sie 14 Jahre lang als Mutter zu Hause. Ihre Erfüllung. Doch dann musste eine finanzielle Sicherheit her. Für die Kinder, das kleine Haus. Durch Zufall hatten sie und ihr Mann vom Verkauf des Kiosks erfahren. Angepriesen als Goldgrube. Mareike zieht die Augenbrauen hoch. „Schön wär`s gewesen. Das war eine richtige Kaschemme.“

„Es gab keinen Abend, an dem ich nicht weinend hier rausgegangen bin“

Vor zwölf Jahren übernahm sie den Laden. Anfangs war es hart. Mareike vermisste ihre Kinder. „Es gab keinen Abend, an dem ich nicht weinend hier rausgegangen bin.“ Es kamen kaum Kunden. Und die, die kamen, waren größtenteils Drogenabhängige. Mareike war überfordert. Doch jeden Monat wurde es besser. Der Laden wurde immer schöner, die Kunden immer bunter. Und Mareike und ihr Mann machten sich mit Freunden daran, den historischen Schatz des Ladens zu renovieren.

Hinter einer Tür neben der Toilette führt eine Treppe in einen Keller, noch ein Stockwerk tiefer ein Gewölbe aus winzigen Räumen, verbunden durch Rundbögen. Im Krieg als Zufluchtsort bei Bombenangriffen genutzt, führten die Fluchttunnel bis zum Bismarck-Denkmal. „Die Räume waren übersät mit Tierkadavern, Dreck und Staub. Wir haben sie aufwendig renoviert.“  Heute werden Ausstellungen im Keller gezeigt. Aktuell Bilder des Kiez-Künstlers Fiete Frahm. Zugänglich sind die Räume allerdings nur für ausgewählte Kiez-Touren, unter anderem von Olivia Jones und „Reverend Roosen“ Ekkehart Opitz, Direktor des „Erotic Art Museums“.


MOPO

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Alle Podcast-Folgen der „Kiezmenschen“ finden Sie unter MOPO.de/Podcast, bei Spotify  und Apple Podcasts.

Die anderen Kunden müssen oben bleiben. Zu gefährlich, sie die steile Kellertreppe alleine runtersteigen zu lassen. Heute schauen gerne mal Corny Littmann und Olivia Jones vorbei. Viele Nachbarn kommen, aber auch Geschäftsleute, Touristen und die Prostituierten aus der Herbertstraße. „Wir haben guten Kontakt zu den Frauen. Ihr Geschäft ist sehr eingebrochen. Über kurz oder lang wird der Kiez eine kulturelle Partymeile, bei der Rotlicht keine tragende Rolle mehr spielt.“

Heute seien es massenhaft Junggesellenabschiede und Engländer, die das Viertel einnehmen. „Da frag ich mich immer, was die hier eigentlich machen. Laufen mit ihren Peniskostümen durch die Straßen“, sagt Mareike und verdreht die Augen. Genervt ist sie davon aber nur, wenn sie nicht gut drauf ist. Ansonsten kann sie das gut ertragen. Allerdings achtet sie darauf, dass das Partyvolk ihre Toilette nicht benutzt. Das hat in der Vergangenheit immer wieder für Ärger gesorgt. Abgebrochenes Waschbecken, verstopftes Klo, Fäkalien auf dem Boden.

Einige Kunden bleiben auch gerne mal länger, trinken einen Mexikaner, den ihr Mann „Musti“ selber kreiert hat und der als „bester Mexikaner von St. Pauli“ betitelt wird, an der kleinen Bar im hinteren Teil des Kiosks. Manche kommen jeden Tag, erzählen ihre Lebensgeschichten. „Wir tragen dann mit an Freude und Trauer.“ Es berührt Mareike, dass sich die Kunden ihr anvertrauen. Allerdings gäbe es auch die Fraktion, die immer das gleiche erzählt. „Das habe ich dann schon 50 Mal gehört und denke, dass sie doch mal endlich was ändern sollten.“ Menschen, die viel verloren haben. Nicht wieder auf die Beine kommen. Aber auch nichts ändern. „Es steht mir nicht zu, über diese Menschen zu urteilen.“ Mareike hört zu. Tipps gibt sie nur, wenn es gewünscht ist. Mit nach Hause nimmt sie die Probleme nicht. „Ich bin keine Schuttablage für Dauerprobleme. Dazu bin ich zu fröhlich.“

Im Keller des Kiosks werden Werke des Kiez-Künstlers Fiete Frahm gezeigt. Allerdings nur für ausgewählte Gäste.
Marius Röer

Im Keller des Kiosks werden Werke des Kiez-Künstlers Fiete Frahm gezeigt. Allerdings nur für ausgewählte Gäste.

Am meisten Freude machen ihr die Kunden, für die der Kiosk etwas Besonderes ist. Die immer wieder kommen – und sei es nur alle paar Monate. Manche der Stammkunden haben sich im hinteren Teil des Ladens verewigt. „Die Kunden haben irgendwann angefangen, sich hier aufzuhängen. Sie kommen mit gerahmten Bildern, die sie von sich im Laden gemacht haben und kloppen den Nagel selber in die Wand. Das finde ich urwitzig.“ Eines der Fotos zeigt zwei Herren oben ohne und einen Nackten. Mareike grinst. „Die kamen hier rein und haben sich dann kurzerhand einfach für uns ausgezogen.“ Weshalb? „Einfach so. Eigentlich wollten sie das zum Trend machen, damit sich noch viel mehr Leute hier bei uns ausziehen und fotografieren.“ Aus dem Trend ist nichts geworden. Schade für die Chefin. Das hätte sie doch gerne mit ein wenig Abstand beobachtet.

„Wenn ich eine Ansage mache, befolgen die Kunden das auch“

Dass ihr Laden viel mehr ist als nur ein Kiosk, spürt Mareike jeden Tag. Wie es in den anderen Kiosken auf dem Kiez läuft, weiß sie nicht. Es interessiert sie auch nicht. Sie ist nicht der Typ, der über andere redet. Klar ist ihr bewusst, dass es zumindest für Augenrollen sorgt, Kiosk und Kiez in einem Atemzug zu erwähnen. Die Schwemme. Alkohol zu Dumpingpreisen. „Das war eine ganze Zeit lang sehr brisant.“ Doch sie findet, dass sich die Lage nach Corona entspannt hat. Vorher waren sieben Kioske an der Davidstraße, heute sind es noch fünf. Trotzdem eine Menge. „Ja, aber in der Straße ist auch immer viel los.“

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Die Kritik der Gastronomen, dass sich die Gäste im Kiosk betrinken und im Club nichts mehr verzehren, versteht Mareike. „Das geht natürlich nicht. Aber das liegt auch in der Verantwortung der Kunden.“ Sie wünscht sich, dass alles nebeneinander existieren kann. „Wer ein bisschen mehr Geld hat, soll doch bitte in der Kneipe oder einem Club etwas trinken. Wer weniger hat, kann sich sein Bier im Kiosk holen.“

Ein Bier? Damit ist es bei vielen vermutlich nicht getan. Zumindest im „Mittenmang“ gibt es jedoch kein komatöses Saufen. Wenn die Kunden schon sturzbetrunken in den Laden kommen, kriegen sie keinen Alkohol mehr. „Das können wir nicht machen. Das ist nicht menschlich. Mir geht es nicht darum, dass am Abend die Kühlschränke leer sind.“ Dann bietet Mareike ein Wasser oder Kaffee an. Stress hatte sie deshalb noch nie. „Ich bin mit meinen 1,80 Metern eine Erscheinung. Wenn ich eine Ansage mache, befolgen die Kunden das auch“, sagt sie und nickt bestimmt.

Die Chefin in ihrem Kiosk. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht auf ihre Haare angesprochen wird.
Marius Röer

Die Chefin in ihrem Kiosk. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht auf ihre Haare angesprochen wird.

Einmal kam eine Frau, die so betrunken war, dass sie „nicht mehr wusste, wo oben und unten ist.“ Mareike setzte sie in ein Taxi und bezahlte den Fahrer. „Ich hatte Angst, dass sie unter die Räder kommt.“ Nach zwei Wochen kam die Frau wieder, bedankte sich und zahlte das Geld zurück. „Mir tut es weh, zu sehen, wie betrunken manche sind.“ Besonders eine Frau wird sie nicht vergessen. Sie lag regungslos mit dem Gesicht in einem Pizzakarton unter den Blumenkästen vor dem Laden. „So etwas will ich nicht. Das finde ich furchtbar.“

Mareike passt auf ihre Kunden auf. Das sieht sie als ihre Pflicht. Auch die Teenie-Droge Lachgas gibt es bei ihr nicht. „Vertreter haben es mir angeboten, aber so was kommt mir nicht in den Laden. Ich verkaufe genug Sachen, die mir nicht hundertprozentig gefallen.“ Sie selber raucht nicht, trinkt kaum Alkohol. Mareike mag es nicht betrunken zu sein. „Das brauche ich nicht zum Enthemmen. Ich bin hemmungslos genug“, sagt die Frau lachend. Ihre kleinen Locken wippen im Takt.

Mareike wirkt wie jemand, der stets gut gelaunt ist. Doch manchmal fällt ihr die Arbeit auch schwer. Sieben Tage die Woche hat der Laden geöffnet. Nur einen einzigen Tag in zwölf Jahren blieb er geschlossen. Bei G20. Aber nicht wegen der Krawalle. An dem Tag hatte ihre älteste Tochter Abiturfeier. Wie sie es schafft, jeden Tag hinterm Tresen zu stehen? „Mit sehr viel positiver Energie. Aber manchmal bin ich abends so scholle, dass ich niemanden mehr hören oder sehen will.“ Dann freut sie sich auf den Abstand zum Kiez. Ihr Zuhause in Groß Flottbek. Natur. Frische Luft.

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Ob der Kiosk das ist, was sie für ihr Leben wollte? Mareike lächelt. Sie schüttelt langsam den Kopf. „Nein, aber ich bin trotzdem glücklich. Das hier ist unsere Realität. Und da machen wir das Beste draus.“ Gemessen an dem Schmerz, den sie anfangs hatte, empfindet sie es heute als kleines Wunder, was aus dem Kiosk geworden ist. Die „kleine Esso“ vom Kiez. Und da ist sie stolz drauf.

Mareike Dere liebt den Kiez, braucht aber privat Abstand.
Marius Röer

Mareike Dere liebt den Kiez, braucht aber privat Abstand.

Steckbrief Mareike Dere (54)

Spitzname und Bedeutung Einen Spitznamen hatte ich noch nie. Selbst in meiner Jugend als Punkerin nicht.

Beruf/erlernte Berufe Inhaberin des Kiosks „Mittenmang“, gelernte Erzieherin und Sport- und Gymnastiklehrerin
St. Pauli ist für mich… mein ein und alles.
Mich nervt es tierisch, wenn… Menschen in Schubladen denken.

Ich träume davon… nach zwölf Jahren endlich mal wieder Urlaub in Italien zu machen.
Wenn mir einer blöd kommt… schmeiße ich ihn raus.
Zum Abschalten… gehe ich ins Grüne und trinke Kaffee.
Als Kind… war ich glückselig.
Meine Eltern… liebe ich über alles.
Vom Typ her bin ich… auffallend, freundlich und allen Menschen gegenüber aufgeschlossen.

Chefin von Kiez-Kiosk: Ich habe jeden Abend geweint wurde gefunden bei mopo.de

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