Das neue Leben der Yvonne F.: Die Frau, die von Stahlkugeln durchsiebt wurde

Das neue Leben der Yvonne F.: Die Frau, die von Stahlkugeln durchsiebt wurde

Überall in ihrem Körper stecken noch Stahlkugeln aus einer Handgranate. Insgesamt wohl 25 Stück. Genau weiß sie es nicht. Eine in der linken Schulter, eine im linken Knie, eine im Rücken und eine sogar im Herzen. Niemand könnte ihr es verdenken, wenn sie den Menschen, der ihr all diese Wunden zugefügt und so viele Schmerzen bereitet hat, immer noch abgrundtief hassen würde. Auch jetzt noch, nach fast 25 Jahren. Es wäre ihr gutes Recht.

Aber Yvonne F. (47) ist alles andere als rachsüchtig und überhaupt nicht verbittert. Ganz im Gegenteil. Während des Interviews strahlt sie übers ganze Gesicht. Sie sagt, sie sei glücklich. Und meint: „Ohne das, was damals geschehen ist, wäre ich nicht der Mensch, der ich bin.“ Dann fügt sie noch hinzu: „Das hat schon alles seinen Sinn, dass es so gekommen ist.“

„Ohne das, was damals geschehen ist, wäre ich nicht der Mensch, der ich bin“

Schauplatz: die Disco „J’s“, die sich damals im vierten Stock des Hochbunkers am Heiligengeistfeld befindet. Zu dem Event am 29. April 2000, zu dem „Partykönig“ Michael Ammer eingeladen hat, sind 1500 Menschen erschienen, darunter etliche Prominente: Heiner Lauterbach, Jenny Elvers, Til Schweiger, Heinz Hoenig, Mark Keller.

Vom Attentäter Cüneyt D. nimmt im Gedränge niemand so recht Notiz. Ungehindert spaziert der damals 28-Jährige in den VIP-Bereich der Disco und platziert zwischen den Polstern einer Sitzecke heimlich eine Handgranate. Er wird später behaupten, im Auftrag gehandelt zu haben. Ein Mann, dessen Namen er nicht verrät, habe Michael Ammer einen Denkzettel verpassen wollen, gibt er zu Protokoll. Um Schulden sei es gegangen.

Partyveranstalter Michael Ammer. Während einer seiner Parties kam es im April 2000 zum Handgranaten-Anschlag.
dpa

Partyveranstalter Michael Ammer. Während einer seiner Parties kam es im April 2000 zum Handgranaten-Anschlag.

Yvonne F. sagt, sie habe den Attentäter gesehen, Sekunden, bevor es passiert ist. „Als ich diesen Mann bemerkte, hatte ich sofort ein mulmiges Gefühl. Ich habe meinem Begleiter gesagt: ,Komm‘, lass uns hier verschwinden. Hier stimmt was nicht.‘“ Aber der Bekannte habe das nicht ernst genommen und es geschafft, ihre Ängste zu zerstreuen. „Ich bin damals nicht meinem Instinkt gefolgt – daraus habe ich gelernt. Heute würde ich das anders machen“, sagt sie.

„Ich bin damals nicht meinem Instinkt gefolgt. Heute würde ich das anders machen“

Ziemlich genau um drei Uhr – es läuft gerade der Song „I Will Survive“ von der Hermes Houseband – habe es dann mit einem Mal unglaublich geknallt. Die Detonation einer jugoslawischen Handgranate vom Typ M75. Darin: 36 Gramm Plastiksprengstoff und Tausende zwei bis drei Millimeter große Stahlkugeln, die nun in einem Affenzahn in alle Richtungen wegfliegen und Menschen furchtbar verletzen. Yvonne F. und ihr Bekannter haben noch Glück: Einige der Kugeln schlagen in eine Lampe ein, die in Kopfhöhe direkt überm Tisch in der Sitzecke hängt – sonst wären die Verletzungen noch schlimmer.

April 2000: Anschlag auf die Disco „J‘s“ im vierten Stock des Bunkers an der Feldstraße.
Ruediger Gaertner

April 2000: Anschlag auf die Disco „J‘s“ im vierten Stock des Bunkers an der Feldstraße.

„Ich kann mich erinnern, dass ich aus der Ecke, in der ich mich befand, rausgetaumelt bin. Als nächstes erinnere ich mich an einen Mann, der mich auf ein Sofa gelegt hat und so lange bei mir geblieben ist, bis Sanitäter und Polizei kamen. Immer, wenn ich das Bewusstsein zu verlieren drohte, hat der Fremde gesagt: ,Bleib‘ wach, du musst wach bleiben.‘ Ich bin dann auch wach geblieben und habe darüber nachgedacht, was ich, wenn ich das hier überlebe, alles noch tun will im Leben: Kinder kriegen, ein Haus kaufen und Cabrio fahren.“

Neun Menschen werden in dieser Nacht durch die Handgranate verletzt – aber niemand so schlimm wie Yvonne F. Die Splitter haben sie regelrecht durchsiebt, vor allem die Beine und den Rücken hat es getroffen. „Als ich im Krankenhaus an mir herunterguckte, habe ich nur gedacht: ,Ach du Scheiße, was ist denn mit dir passiert? An den Beinen war nichts mehr heil. Da gab es Wunden so groß wie Frühstücksteller.“

„An den Beinen war nichts mehr heil. Da gab es Wunden so groß wie Frühstücksteller“

In dieser Sitzecke hielt sich Yvonne F. mit ihrem Bekannten Rudi G. auf, als die Handgranate explodierte.
Ruediger Gaertner

In dieser Sitzecke hielt sich Yvonne F. mit ihrem Bekannten Rudi G. auf, als die Handgranate explodierte.

Yvonne F. wird unzählige Male operiert. Die Ärzte retten zwar ihr Leben, aber als die damals 23-jährige Frau nach drei Wochen das Krankenhaus verlässt, ist sie auf Krücken angewiesen. „Viel Mut haben mir die Ärzte nicht gemacht, dass sich das jemals wieder ändern wird. Im Gegenteil. Sie haben mir immer wieder aufgezählt, was alles nicht mehr gehen würde. Kinder kriegen? Cabrio fahren? Ausgeschlossen.“

Anfangs habe sie eine unglaubliche Wut gehabt auf den Mann, der ihr das angetan hat. In einer Psychotherapie-Sitzung habe sie der Therapeutin ihr Rachephantasien erzählt: Dass sie den Attentäter auf einem Tisch festbinden, ihm Wunden zufügen und Senf hineinschmieren wolle und dann lachend zusehen, wie er leidet.

Irgendwann aber sei ihr klar geworden, so Yvonne F., dass sie die Wahl habe: Entweder weiter wütend zu sein – oder aber ihre Energie darauf zu verwenden, glücklich zu werden. „Es hat lange gedauert, aber dann ist mir aufgegangen, was für ein unglaubliches Geschenk mir der liebe Gott gemacht hat. Er hätte auch sagen können: So, dein Leben ist zu Ende. Aber nein, er hat mir ein zweites geschenkt. Habe ich dann nicht die verdammte Pflicht, was richtig Gutes daraus zu machen?“

Yvonne F. kämpft sich in ihr Leben zurück, lernt wieder Gehen, bestellt sich das ersehnte Cabrio, einen Fiat Barchetta in Gelb, lernt einen Mann kennen, heiratet ihn, bekommt einen Sohn und zwei Töchter, kauft sich ein Haus, verwirklicht sich all das, was sie sich vorgenommen hat. „Wenn ich heute mit den Röntgenbildern von damals zum Arzt gehe, weil ich mal wieder im Rücken Schmerzen habe, gucken die mich an und sagen, dass können doch nicht ihre sein. Das ist ja ein Wunder.“

„Der Tag kann noch so schlecht beginnen, es liegt an Dir, ob was Gutes daraus wird oder nicht“

Vor dem Handgranaten-Anschlag hat Yvonne F. als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet. Nach dem Anschlag hat ihr das Versorgungsamt eine Umschulung zur Heilpraktikerin finanziert. 2011 besteht sie ihre Prüfung. Sie ist heute selbstständig, nennt sich Happyness-Trainerin und versucht, ihren Patienten zu vermitteln: „Der Tag kann noch so schlecht beginnen, es liegt an Dir, ob etwas Gutes daraus wird oder nicht.“

Nach dem Anschlag: Yvonne F. (r.) und der ebenfalls verletzte Rudi G. im Krankenhaus.
Volker Schimkus

Nach dem Anschlag: Yvonne F. (r.) und der ebenfalls verletzte Rudi G. im Krankenhaus.

Der Anschlag hat Spuren bei ihr hinterlassen. Körperliche und seelische. Manchmal, vor allem wenn das Wetter umschlägt, schmerzen der Rücken und die Schulter. Zu knien fällt ihr schwer. Wenn sie ins Restaurant geht, sucht sie sich immer einen Tisch, von dem aus sie den ganzen Raum überblicken kann. Bus und Bahn fährt sie ungern – zu viele unbekannte Menschen, die dummes Zeug machen könnten. Aufzüge meidet sie, vor allem, wenn noch andere mitfahren. Fliegen? Lieber nicht.

Aber das seien doch alles nur Nebensächlichkeiten, findet sie. „Wichtig ist, dass ich glücklich bin. Und ich habe doch allen Grund dazu, oder?“

Yvonne F. will jetzt ein Buch über ihr Leben schreiben. Den Titel weiß sie schon: „Glaube an Wunder“

Übrigens: Animiert durch das MOPO-Interview hat Yvonne F. damit begonnen, ein Buch über ihre Geschichte zu schreiben. Ein paar Seiten sind schon fertig. Den Titel weiß sie schon: „Glaube an Wunder“ soll es heißen.

Nachtrag: Der Attentäter Cüneyt D. wurde zu zwölf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt und 2010 in die Türkei abgeschoben. Von den 65.000 Euro Schadenersatz, die er Yvonne F. zahlen muss, hat sie keinen Cent gesehen. Sie lacht. „Ach, egal.“

Das neue Leben der Yvonne F.: Die Frau, die von Stahlkugeln durchsiebt wurde wurde gefunden bei mopo.de

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