Der gefährliche Kult um die PS-Monster

Der gefährliche Kult um die PS-Monster

Der Mercedes AMG GLE 63s ist bei 280 Stundenkilometern abgeregelt, die Leistung von rund 600 PS wäre sonst für ein Spitzentempo von mehr als 300 km/h gut. Was der durchschnittliche Ottenser Lastenradfahrer wohl als kompletten Wahnsinn ansieht, übt auf viele junge Männer einen unheimlichen Reiz aus. Der furchtbare Unfall am Jungfernstieg wurde von einem erst 18-jährigen Fahrer am Steuer eines solchen GLE 63 verursacht. Viel zu viel PS und viel zu wenig Fahrpraxis – das gibt es aber nicht erst seit Kurzem, nein, auch zur Zeit meiner ersten Fahrversuche in den frühen 1980er Jahren gab es das. Nur waren die Folgen meist weniger schlimm. Und das hat mit der Entwicklung der Autos zu tun.

Golf GTI 1 – dieses Auto war vor 45 Jahren der Traum ganz vieler Fahranfänger. Nach zwei, drei Jahren am Steuer eines aus meiner Sicht hoffnungslos untermotorisierten VW Polo erfüllte ich mir diesen Traum 1982 in der Farbe „Alpin-Weiß“ 1982. Der Kauf des GTI katapultierte mich von läppischen 40 PS im Polo auf 110 PS – und das war echt eine Ansage damals. Der GTI wog nur rund 900 Kilo und mit 182 km/h Spitze war ich auf der Autobahn „King der linken Spur“. Selten kam mal eine 500er Mercedes S-Klasse oder ein Porsche 911 und machte mir die Überholspur streitig. Dann war ich geknickt. Kindisch, meinen Sie? Vielleicht, aber ich liebe Autofahren, vor allem ohne die heute selbstverständlichen technischen Helferlein.

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Der Reiz des (schnellen) Autofahrens hat sich bis in unsere Zeit bei der Jugend gehalten. Schon Zehnjährige schauen stundenlang Videos von Auto-Influencern oder Luxus-Car-Dealern. Sie bestaunen TV-Auto-Stars wie Hamid Mossadegh, der auf seinem YouTube-Kanal im 900 PS-Brabus G-Modell von Mercedes vorfährt und über das PS-Monster plaudert.

MOPO-Reporter Thomas Hirschbiegel mit seinem  Mercedes AMG CLK 55.
Florian Quandt

MOPO-Reporter Thomas Hirschbiegel mit seinem  Mercedes AMG CLK 55.

Und da wären wir dann beim aktuellen Unfall. Für viele Jugendliche nicht nur aus Mümmelmannsberg, Osdorfer Born oder Steilshoop ist es der absolute Traum, einmal einen Mercedes AMG zu fahren. AMG steht für die Namen Aufrecht und Melcher. Das waren zwei Autoschrauber, die ab 1967 betuliche Mercedes-Limousinen im Örtchen Großaspach in Baden-Württemberg mit mehr PS versorgten. Mercedes schluckte den Betrieb und stellt heute jährlich rund 300.000 teils extrem hoch motorisierte AMG-Fahrzeuge her.   

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Der deutsche Wohlstandsbürger zeigte in den 1960er Jahren mit dem Kauf eines Opel Kapitän oder einer Mercedes „Heckflosse“, dass er es „geschafft“ hat. Und genauso möchten heute junge Leute, oft aus Familien mit Migrationshintergrund, eben zeigen, dass sie es hier zu Wohlstand gebracht haben und Respekt verdienen – auch wenn viele Normalbürger so ein Verhalten unverständlich und lächerlich finden.

Es bleibt die Frage, wie es zu dem Unfall am Jungfernstieg kommen konnte

So weit die Psychologie. Es bleibt die Frage, wie es zu dem Unfall am Jungfernstieg kommen konnte und ob er zu verhindern gewesen wäre. Ich saß als junger Mann in meinem GTI, habe mich überschätzt und den VW an der Autobahnabfahrt Waltershof bei Glatteis zerlegt. Niemand sonst kam zu Schaden. Doch der Unfallversursacher am Jungfernstieg saß am Steuer eines mehr als zwei Tonnen schweren 600-PS-Geschosses. Wer hier nicht extrem sensibel mit dem Gaspedal umgeht, der verliert ganz schnell die Kontrolle. Zumal ESP und andere Sicherheitssysteme ausgeschaltet werden können.


MOPO

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Diese Woche u.a. mit diesen Themen:
– Tödlicher Unfall am Jungfernstieg: Die Wut auf den PS-Wahn
– Rückkehr eines gefährlichen Trends: Surfer-Irrsinn auf der S3
– Die bewegende Geschichte einer Hamburger Eckkneipen-Besitzerin
– 20 Seiten Sport: Alles zur EM & Trainerausbilder Frank Wormuth stellt St. Paulis neuen Trainer Alexander Blessin vor
– 28 Seiten Plan7: Kultur-Tipps für jeden Tag, Kino, Gastro, Rätselbeilage und mehr

Unter vier Sekunden braucht das schwere Auto von 0 auf 100 km/h. Zum Vergleich: Der Golf GTI benötigte vor 45 Jahren dafür mehr als doppelt so lange und war weniger als halb so schwer. Und Masse plus Geschwindigkeit sind die entscheidenden Variablen, wenn es um die Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer bei einem Unfall geht. Der Passant am Jungfernstieg starb, weil der AMG mit derartiger Wucht in einen VW Transporter krachte, dass dieser den 39-Jährigen rammte und tödlich verletzte.

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Nicht ohne Grund geben viele Autovermieter aktuell AMG-Modelle nur an Fahrer mit jahrelanger Praxis. Der Spruch „Für so eine Karre brauchst du eigentlich einen Waffenschein“ ist nicht ganz falsch. Heute fahre ich neben meinem Trabi einen 21 Jahre alten Mercedes AMG CLK 55, erfreue mich am Sound des V8-Motors und habe null Punkte in Flensburg. Aber ich bin eben auch 65 und nicht mehr 20.   

Der gefährliche Kult um die PS-Monster wurde gefunden bei mopo.de

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