Endlich sehen: Wenn arme Hamburger vor Freude weinen

Endlich sehen: Wenn arme Hamburger vor Freude weinen

Vorsichtig setzt sich die zierliche Seniorin mit den sanften Augen und der zerschlissenen Jacke die Brille auf die Nase. Sie lächelt ein zahnloses Lächeln, schlägt die Hände vors Gesicht. Ob die Brille passt, muss Christiane Faude-Großmann (57) nicht fragen. Das Strahlen ihrer Gäste sagt meist alles. Manchmal weinen die Leute. Manchmal muss Christiane vor lauter Rührung mitweinen. „Die Freude, endlich wieder sehen zu können, steckt an. Das sind unglaublich schöne Momente“, sagt die Gründerin von „Mehrblick“, einer Hamburger Organisation mit Sitz in Wandsbek, die Menschen in Armut kostenlos mit Brillen versorgt.

Sehen. Und gesehen werden. „Das ist von großer Bedeutung für die Lebensqualität“, sagt Christiane. Sei es, um Anträge ausfüllen zu können. Jemandem auf der anderen Straßenseite zu erkennen. Oder sich selber wieder klar im Spiegel zu sehen. Manche ihrer Gäste schauen an sich herunter und sind schockiert. „Ihnen ist vorher gar nicht aufgefallen, wie verwahrlost sie aussehen.“

Ihre Gäste sind Bedürftige. Viele Obdach- oder Wohnungslose, aber auch andere Menschen, die von Armut betroffen sind. Bei denen das Geld nicht mal für das Nötigste reicht. Immer mehr Frauen kommen zu den Sprechstunden und auch immer mehr Senioren. „Altersarmut ist ein großes Thema. Bei den Menschen reicht das Geld vorne und hinten nicht.“

„Mehrblick“ hat bereits mehr als 4600 Brillen ausgegeben

Vor acht Jahren gründete Christiane Faude-Großmann aus Volksdorf „Mehrblick“. Damals arbeitete sie für das Diakonische Werk, hatte viel mit Obdachlosen und Prostituierten zu tun. Mit Brillen eigentlich nichts – außer, dass sie selber eine trägt. „Natürlich habe ich eine Menge Probleme gesehen. Aber es gibt in Hamburg auch viele Hilfsangebote für diese Menschen. Das Thema Augen und Sehen war aber noch nicht besetzt. Deshalb wollte ich dazu etwas beitragen.“

Anfangs stand sie ziemlich alleine da. Sieben Mitglieder zur Gründung eines Vereins bekam sie nicht zusammen. Deshalb gründete sie eine gemeinnützige Unternehmensgesellschaft und fuhr von einem Optiker zum nächsten, um Mitstreiter zu finden.

Mittlerweile hat „Mehrblick“ mehr als 4600 Brillen ausgegeben. 40 ehrenamtliche Koordinatoren und Optiker:innen engagieren sich an fünf festen Standorten in Deutschland. Entstanden durch Freiwillige, die sich bei der Gründerin meldeten und sich ebenfalls in ihren Städten engagieren wollten. Neben Hamburg werden in Berlin, Hannover, Mainz und Kiel Sprechstunden geboten.

In Hamburg gibt es zwei bis vier Sprechstunden im Monat. Je nachdem, wann die Optiker Zeit haben. Dafür besuchen Christiane und ihr Team Obdachloseneinrichtungen oder Kirchengemeinden. Wie heute die „Mobile Bullysuppenküche“ am Hein-Köllisch-Platz (St. Pauli).

Brillen für Bedürftige: Eine ehrenamtliche Optikerin setzt einem Gast bei der Sprechstunde die Prüfbrille auf.
Mehrblick

Brillen für Bedürftige: Eine ehrenamtliche Optikerin setzt einem Gast bei der Sprechstunde die Prüfbrille auf.

Der Regen prasselt gegen die großen Scheiben der „Bullyecke“. Es donnert. Christiane bittet einen Mann mit tiefen Furchen im Gesicht und Rollator ins Büro. Auf den Tischen rund 300 Brillen in kleinen Plastiktüten. Nahezu alle gespendet. Das ist Christiane wichtig. „Nachhaltigkeit ist für uns ein großes Thema.“ An der Wand eine Sehtafel mit immer kleiner werdenden Zahlen.

Die ehrenamtliche Optikerin Emilie vermisst die Augen des Mannes mit dem abgewetzten Käppi auf weißem Haar. Christiane deutet auf seine tätowierten Arme. „Haben Sie die auf der Reeperbahn machen lassen?“ Der Mann grinst. „Nein, im Hafen von Shanghai“, nuschelt er. Seine Mundwinkel zucken, als er seine neue Brille das erste Mal aufsetzt. „Ihr seid Engel. Passt auf euch auf“, sagt er beim Rausgehen mit sanfter Stimme.

Es ist fast eine intime Atmosphäre. „Man guckt die Leute genau an, man kommt ihnen mit der Prüfbrille sehr nahe. Eine vertraute Situation, die diese Menschen nicht oft erleben.“ Bei vielen führe sie dazu, dass sie ihre Probleme, ihre Schicksale und Ängste mitteilen. „Unser Team möchte dem gerecht werden, kann es aber nur in bedingtem Rahmen. Weil wir wissen, dass noch zehn Leute vor der Tür warten.“ Manchmal fällt es ihr schwer, die Gäste zu unterbrechen. Sie nennt ihnen Anlaufstellen, gibt Flyer mit.

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Von manchen jedoch kennt Christiane die Lebensgeschichte. Wie von einem Mann, der immer wieder kommt. Sie weiß von seinen Problemen mit den verstorbenen Eltern. Von der Unterdrückung, seiner psychischen Erkrankung. „Ich weiß nicht, wie häufig wir seine Augen bereits vermessen haben und wie viele Lesebrillen er mittlerweile hat.“ Aber sie weiß: Es tut ihm gut in die Sprechstunde zu kommen. Also ist er willkommen. Immer wieder.

Manche Schicksale lassen Christiane nicht los. „Das hinterlässt natürlich Spuren bei mir und eine gewisse Demut vor dem Leben. Wenn ich nach Hause fahre, nehme ich die Geschichten der Menschen mit.“ Dass sie dazu beitragen kann, die Lebensqualität der Bedürftigen zu verbessern, macht sie glücklich. Sie möchte noch viel mehr Menschen helfen und träumt davon, weiter zu expandieren. „Mehrblick-Standorte in jeder deutschen Großstadt – das ist meine Vision.“

Steckbrief: Christiane Faude-Großmann (57), Gründerin von „Mehrblick“

Auto oder Fahrrad? Ich brauche zwar ein Auto, aber zu Hause in Volksdorf fahre ich nur Rad.

Schnitzel oder Veggie-Burger? Ich esse sehr selten Fleisch, aber Veggie-Burger ist noch weniger was für mich. Dann lieber das Schnitzel.

Kind oder Haustier? Kind. Definitiv. Nein, Haustiere sind nicht meins. Die Schnecken im Beet reichen mir.

Bier oder Wein? Bier trinke ich nicht. Wenn dann mal ein Alster. Aber das gilt ja nicht als Bier. Dann doch lieber Wein.

Nordsee oder New York? New York. Ich war mal als Kind sechs Wochen auf Kur an der Nordsee. Es war kalt, hat ständig geregnet. Das habe ich nicht in guter Erinnerung.

Kiez-Club oder Elphi? Lieber Kiezclub. Ich mag den Mojo-Club.

Yoga oder Fitnessstudio? Beides nicht. Ich bin in einem kleinen Sportverein.

Heavy Metal oder Klassik? Klassik. Ich spiele seit meiner Kindheit Klavier.


MOPO

Die Bessermacher – eine Aktion von MOPO und Haspa

Haspa unterstützt Organisation: „Mehrblick schafft echte Lebensqualität“

Gutes verdient Unterstützung. Mit der Aktion „Die Bessermacher“ wollen wir nicht nur engagierte Menschen zeigen. Die Projekte bekommen auch finanzielle Hilfe und langfristige Unterstützung.

„Mehrblick“ wünscht sich zwei Laptops – insbesondere für das Pflegen der Datenbank, in die jede gespendete Brille eingetragen wird. Die Haspa kümmert sich um die Finanzierung mit Fördermitteln aus dem „Haspa LotterieSparen“. Zudem wird die Haspa Volksdorf die Patenschaft übernehmen. „Ehrenamtliches Engagement wirkt besonders, wenn es gut organisiert ist. Mehrblick zeigt wie es geht und schafft echte Lebensqualität“, so Filialdirektor Michael Schilling.  

Wie es mit dem Projekt weiter vorangeht, erfahren Sie im Bessermacher-Recall. Die MOPO bleibt dran und berichtet!

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