Hamburgs älteste Kneipe vor dem Aus: Hier enden 230 Jahre Familiengeschichte

Hamburgs älteste Kneipe vor dem Aus: Hier enden 230 Jahre Familiengeschichte

1794, in Frankreich hatten sie ein paar Monate zuvor Marie Antoinette enthauptet, da unterschrieb im fernen Altengamme ein Familienvater namens Carsten Scherer den Kaufvertrag für eine Kate an der Elbe. 230 Jahre später hängt das historische Dokument im Gastraum des „Fährhaus Altengamme“ und hinter dem Tresen steht Hans-Jürgen Herr (74), mehrfacher Ur-Enkel des damaligen Katenkäufers. Die MOPO besuchte den Gastwirt, staunte über eine uralte Pendeluhr, hörte von einer Zeit, als die Vier- und Marschlande zwei Städten gehörten – und erfuhr, dass die lange Familiengeschichte der Fährhauswirte sich nach sieben Generationen dem Ende zuneigt.

„Ja, die Uhr“, sagt Hans-Jürgen Herr und blickt auf die Pendeluhr in der vorderen Gaststube, „die steht ja sogar schon im Kaufvertrag von 1794.“ Auch zwei Sitzplätze in der Altengammer Kirche („eine Frauen- und eine Männerstelle”) und eine Grabstätte auf dem Friedhof waren damals im Preis enthalten. Jeden Tag zieht der hochgewachsene Nachfahre des Käufers das Uhrwerk auf, und das Pendel zerteilt unverdrossen die Stunden in Sekunden.

Hans-Jürgen Herr (74) vor der Pendeluhr, die schon im Kaufvertrag von 1794 erwähnt wird
Florian Quandt

Hans-Jürgen Herr (74) vor der Pendeluhr, die schon im Kaufvertrag von 1794 erwähnt wird

„Fährhaus Altengamme – Elly Herr“ steht in leicht abgeblätterter Schrift auf der Fachwerkfassade am Altengammer Hauptdeich 120. Das schöne Haus steht unter Denkmalschutz, das Reetdach wurde gerade erneuert. „Elly war meine Mutter“, sagt Hans-Jürgen Herr, „sie ist jetzt schon zwanzig Jahre tot.“ Seitdem gibt es nur noch ihn im Service und seinen jüngeren Bruder Rolf (71) in der Küche. Geöffnet wird fast nur noch für Stammgäste, die ab und zu zum Kartenspielen kommen: „Man muss ja ein bisschen was um die Ohren haben.“

Das Fährhaus war lange ein beliebtes Ausflugsziel

Das war mal anders. Das Fährhaus Altengamme war ein beliebtes Ausflugsziel für Hamburger und Bergedorfer und Dorfkneipe für die Nachbarschaft. Hier wurden Taufen und Geburtstage gefeiert, die Bratkartoffeln waren berühmt.

Die Postkarte aus den 50er Jahren zeigt den damals schon historischen Gastraum des Fährhaus Altengamme
Florian Quandt

Die Postkarte aus den 50er Jahren zeigt den damals schon historischen Gastraum des Fährhaus Altengamme

Man verschickte sogar Ansichtskarten. Beim Blick auf das alte Foto vom Gastraum muss man sich sehr anstrengen, um Unterschiede zum aktuellen Zustand zu entdecken. Die Uhr ist da, die Tische, sogar die Garderobenhaken haben überdauert: „Die Gardinen haben wir mal erneuert und die Stühle“, sagt Hans-Jürgen Herr, „aber sonst eigentlich nichts.“ Die kleine Theke mit dem Zapfhahn, die glänzenden Bodendielen, so muss es hier schon ausgesehen haben, als der kleine Hans-Jürgen hier spielte und vor ihm seine Mutter Elly.

An den Wänden hängt die Familiengeschichte

An den Wänden hängt Familiengeschichte. Der „Bürgereid“ etwa, den Vorfahr Jacob Scheer 1852 ablegte: „Ich gelobe, dass ich den Senaten der beiden Städte Lübeck und Hamburg will treu und gehorsam sein.“ Lübeck? Wieso Lübeck? „Die Vier- und Marschlande waren seit 1420 beiderstädtisches Gebiet“, sagt Hans-Jürgen Herr: „1860 hat Hamburg Lübeck dann ausbezahlt.“ Es gibt den ersten Pachtvertrag für die Elbfähre und einen Brief vom „König und Kaiser“ zur goldenen Hochzeit der Urgroßeltern 1902. Wenn ein Haus so lange einer Familie gehört, geht halt nichts verloren.

Der Gastraum des Fährhaus Altengamme: Sogar die Garderobenhaken haben überlebt
Florian Quandt

Der Gastraum des Fährhaus Altengamme: Sogar die Garderobenhaken haben überlebt

„Wollten Sie nie mal woanders leben, Herr Herr?“ Knappe Antwort: „Nee.“ Altengamme ist doch eine schöne Gegend und bevor der neue Deich kam, konnte man sogar bis Geesthacht gucken. Und das Leben als Fährhaus-Wirt ist auch nicht schlecht: „Man musste zwar manchmal ganz schön flitzen, aber man ist auch sein eigener Herr.“ Schon als Jungen haben er und sein Bruder mit angepackt. Wie in allen Vierländer Familien gab es einen Gemüsegarten hinter dem Haus: „Was man nicht selbst verbrauchte, stellte man als Kommissionsware an den Straßenrand.“ Heißt: Blumen und Kartoffeln wurden von Händlern auf dem Hamburger Großmarkt verkauft. Im Winter konnte man manchmal zu Fuß rüber nach Stove und im Sommer passten die Jungs auf die Fahrräder der Ausflügler auf.

Hans-Jürgen Herr (74) zeigt Fotos aus der Familiengeschichte, die hinter dem Tresen hängen
Florian Quandt

Hans-Jürgen Herr (74) zeigt Fotos aus der Familiengeschichte, die hinter dem Tresen hängen

Über Generationen sicherten die Gastwirtschaft und die kleine Personenfähre der Familie ein gutes Einkommen. Der alte Fahrplan hängt heute noch: Morgens um 5.15 Uhr die erste Tour über die Elbe nach Stove, abends um 20.10 Uhr die letzte, immer abgestimmt auf die Busse nach Bergedorf. Bis in die 60er Jahre ging das so, dann hatten immer mehr Leute auf der anderen Elbseite Autos. Großvater Ernst Scheer war der letzte Altengammer Fährmann.

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Dann kramt Hans-Jürgen Herr ein altes Foto hervor: Drei kleine Mädchen und zwei Frauen, die im Eingang zum Fährhaus stehen. Das ist Elly mit ihren jüngeren Schwestern, ihrer Mutter und einer Hausangestellten. Fünf Generationen hieß die Fährhaus-Familie „Scheer“ (der Sohn des Käufers hatte den Namen „Scherer“ in „Scheer“ geändert). Als Elly heiratete, änderte sich der Name in „Herr“. Und nun? Nach fünf Generationen „Scheer“ und zwei Generationen „Herr“ ist Schluss: „Mein Bruder und ich haben beide keine Kinder. Mit uns wird es enden“, sagt Hans-Jürgen Herr. Sentimentalität ist nicht sein Ding: „Die Zeit der Dorfkneipen ist vorbei.“ Mag sein. Aber die Pendeluhr, die wird er weiterhin jeden Tag aufziehen.

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