Liebe, Leben, Leidenschaften: St. Pauli-Kapitän Irvine privat wie nie

Liebe, Leben, Leidenschaften: St. Pauli-Kapitän Irvine privat wie nie

Der FC St. Pauli ist eine Bereicherung für die Bundesliga – und das gilt auch für den Kapitän der Kiezkicker. Lange gefärbte Haare, Oberlippenbart, ungewöhnliche Tattoos, gerne mal schwarz lackierte Fingernägel. Beim Kiezklub und seinen Fans längst ein gewohntes und liebgewonnenes Bild, in Liga eins neu. Jackson Irvine ist ein echter Typ, nicht nur optisch. Einer wie keiner. Doch der 31-jährige Australier will in der Bundesliga nicht durch sein Äußeres auffallen, sondern durch sein Spiel, sich auf dem nächsten Level als Fußballer einen Namen machen und etablieren – wie auch seinen Verein. Mit dem Aufstieg hat sich ein Lebenstraum erfüllt. Satt ist er noch lange nicht. Irvine ist hungrig. Nach Erfolg. Und nach Leben. Im großen A bis Z der MOPO spricht er so offen, ausführlich und privat wie noch nie von seiner Karriere, seinem Leben, Leidenschaften, Liebe und was ihn bewegt. Er erzählt die Geschichte einer besonderen Freundschaft, berichtet von einem unmoralischen Angebot und verrät, warum ihm bei St. Pauli seine Lieblingsnummer verwehrt wurde.

Anführer: Das ist für mich ein ganz wichtiger Teil meines Fußballer-Lebens, als erfahrener Führungsspieler Verantwortung zu übernehmen, voranzugehen, viel zu kommunizieren – speziell in schwierigen Momenten, wie in den letzten Wochen bei St. Pauli oder im Nationalteam. Es ist sehr wichtig, mitzuhelfen, eine Kultur zu kreieren, in der jeder seine beste Leistung abrufen kann. Das versuche ich zu machen. Jeder Leader ist anders – ich mache es in meinem Stil. Ich habe immer gesagt, dass es eine Ehre ist, Kapitän des FC St. Pauli zu sein, aber für mich geht es nur um die Aufgabe – ohne den Input ist es nur ein Titel und ein Stück Stoff, das du am Arm trägst. Das bedeutet gar nichts. Du musst es mit Leben füllen.

Irvine: Für die Bundesliga bin ich zu St. Pauli gekommen

Bundesliga: Das ist das, wa­rum wir alle hier sind! Darum bin ich zu St. Pauli und nach Deutschland gekommen – um mit diesem Klub in einer der besten Ligen der Welt zu spielen. Wir wollen dort so gut sein, wie wir können und uns mit einigen der besten Teams und auch Spielern der Welt messen. Das ist eine große Herausforderung, auf die ich mich jede Woche aufs Neue freue.

Curtis Good (hier im Trikot von Melbourne City) ist einer der engsten Freunde von Jackson Irvine.
IMAGO/AAP

Curtis Good (hier im Trikot von Melbourne City) ist einer der engsten Freunde von Jackson Irvine.

Curtis: Einer meiner ältesten Freunde. Ich kenne Curtis Good seit Kindertagen, wir sind zusammen in einem Vorort im Südosten von Melbourne aufgewachsen. Gleiches Alter, gleiche Nachbarschaft. Wir haben im Fußballverein zusammengespielt, Knox City, aber auch Leichtathletik gemacht, Crosslauf. Zwischen unserem 10. und 15. Lebensjahr haben wir sehr viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben als Kids davon geträumt, Fußballprofis zu werden. Wie unsere Karrieren dann verlaufen und dabei auch verbunden sind, ist schon verrückt. Ich bin nach Schottland in die Jugend von Celtic Glasgow gewechselt, Curtis etwa zwei Jahre später nach England zu Newcastle United. Aber in der Junioren-Nationalmannschaft Australiens spielten wir wieder zusammen. Curtis war Kapitän, ich Vize-Kapitän. Als 20-Jährige haben wir dann in der schottischen Liga gegeneinander gespielt. Wie der Zufall es wollte, war ich von Celtic an Kilmarnock ausgeliehen, Curtis von Newcastle an Dundee United. In der Zeit danach hat ihn leider eine schwere Rippenverletzung lange zurückgeworfen, aber er hatte noch eine tolle Karriere in Australien. Viel später, in der Qualifikation für die WM 2022, haben wir noch mal kurzzeitig in der A-Nationalmannschaft zusammengespielt, was echt besonders war. Im Moment spielt Curtis in Thailand. Der Kontakt ist nie abgerissen, aber auch, wenn wir mal länger nichts voneinander hören, ist da diese enge Verbindung, fast familiär, die immer bleiben wird. Es ist eine schöne und auch kuriose Geschichte, die zeigt, wie das Leben und auch der Fußball manchmal spielt.

Deutsch: Mein Deutsch ist okay! (sagt Irvine auf Deutsch) Ich kann es sprechen und fast alles verstehen. Aber wenn ich will sprechen mit mehr Nuancen und Tiefe, es ist schwierig (er wechselt wieder ins Englische). Es ist mir wichtig, nicht nur zu reden, sondern dabei auch etwas zu sagen, und ich kann mich in meiner Muttersprache einfach besser ausdrücken – gerade nach Spielen, mit all den Emotionen, möchte ich mich so präzise wie möglich äußern und nicht nur kurze Standardsätze ohne Inhalt sagen. Wenn ich im Alltag mal jemanden auf Deutsch anspreche, dann antworten die Leute in 99 von 100 Fällen auf Englisch (lacht). Vielleicht, weil sie mich kennen oder es am Akzent hören. Letztlich ist die Hauptsache, dass man sich gut verständigen kann. Aber mein Deutsch ist besser, als viele Leute möglicherweise denken!

Jackson Irvine präsentiert sich oft sehr extravagant

Extravaganz: Es ist nicht so, dass ich unbedingt auffallen will mit meinem Äußeren. Es spiegelt vielmehr meine Persönlichkeit wider. Das hat sich mit der Zeit so entwickelt, ich habe meinen eigenen Weg gefunden im Fußball und im Leben und dabei in gewisser Weise auch mich. Das bin einfach ich. Natürlich hat es auch mit meiner Partnerin (Jemilla, die Red.) zu tun, die eine sehr kreative Person ist und mich ermutigt hat, mich so auszudrücken, wie ich es vielleicht schon immer wollte. Natürlich spielt dabei auch eine wichtige Rolle, dass ich mich hier in einem Fußballumfeld bewege, in dem ich als die Person akzeptiert werde, die ich bin. Das ermöglicht es mir, einfach Dinge auszuprobieren, für die ich unter anderen Umständen nicht die Selbstsicherheit hätte.

Der Fotograf Max Galys inszenierte Jackson Irvine in ungewöhnlichem Outfit.
Instagram/jacksonirvine_

Der Fotograf Max Galys inszenierte Jackson Irvine in ungewöhnlichem Outfit.

Familie: Das Wichtigste im Leben. Meine Eltern, meine Schwester und mein Neffe sind mir sehr nah, leben aber am anderen Ende der Welt, was es nicht einfach macht und manchmal hart ist. Natürlich wünscht man sich, dass alle glücklich sind und man ein erfülltes Familienleben hat, und bemüht sich, so gut wie möglich seinen Teil dazu beizutragen und gemeinsame Momente zu genießen. Das gilt auch für die Familie von Jemilla, meine neue zweite Familie, sozusagen. Obwohl meine eigene Familie in Australien lebt und ich dort geboren bin, sind meine Einflüsse sehr europäisch und deshalb gab es auch immer die Verbindung zum europäischen Fußball. Mein Vater Steve ist eingewanderter Schotte, meine Mutter Danielle ist in Australien als Tochter eines Niederländers und einer Malteserin geboren. In mir steckt also eine sehr interessante Mischung (schmunzelt). Mein Vater hat übrigens nach wie vor nicht den australischen Pass – er ist ein stolzer Scotsman (lacht). Meine Eltern werden mich demnächst in Hamburg besuchen, länger bleiben und auch bei einigen Spielen dabei sein. Das bedeutet mir sehr viel. Sie wollen ein Teil meiner Reise sein, mich auf dem Weg ein Stück begleiten, und das ist einfach sehr besonders für mich.

Gänsehaut: Es gibt eine ganze Menge, was bei mir Gänsehaut auslösen kann. Das hat in erster Linie mit Leidenschaft zu tun, mit Dingen, die tief gehen, dich bewegen und dir viel bedeuten. Fußball kann das auf eine ganz bestimmte Art und Weise, weil viele Emotionen im Spiel sind – ich denke nur an den Aufstieg und alles, was damit zu tun hatte. Kunst in jeder Form – Musik, Filme, Bilder – kann ebenfalls Gänsehaut auslösen. Und auch das Lesen eines Buches kann dich auf besondere Weise berühren.

Irvine hat im FC St. Pauli seine neue Heimat gefunden

Heimat: Für mich ist Heimat eindeutig mehr ein Gefühl als ein bestimmter Ort. Das liegt ganz sicher auch daran, dass ich schon in jungen Jahren mein Elternhaus in Melbourne und Australien verlassen habe, um in Europa Fußball zu spielen, und ich jetzt fast schon so lange weg von zu Hause bin, wie ich Zeit dort verbracht habe. Heimat – das ist der Ort mit bestimmten Menschen und das Gefühl, dass du dort richtig bist. Das findet man nicht oft im Profifußball, aber ich habe es hier in Hamburg und auf St. Pauli definitiv gefunden. Hier fühle ich mich so zu Hause wie noch nie in meiner Karriere.

Irvines Idol Harry Kewell machte in seiner Karriere 237 Spiele für Leeds United und 139 für den FC Liverpool.
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Irvines Idol Harry Kewell machte in seiner Karriere 237 Spiele für Leeds United und 139 für den FC Liverpool.

Idol: Als Kind hatte ich vor allem Harry Kewell als Vorbild. Auch Mark Viduka habe ich nachgeeifert, aber Harry war mein Hero. Er war der erste Australier, den ich in der europäischen Champions League habe spielen sehen, mit Leeds und später Liverpool, auf dem höchsten Level des Klubfußballs. Mit Liverpool stand er im legendären Finale gegen den AC Milan. Das fand ich als Kind aus Down Under unglaublich, dass einer von uns da mitmischte. Viel später hatte ich das große Glück, ihn persönlich kennenzulernen, und wir haben sogar regelmäßig Kontakt, was sehr speziell ist. Als ich während der Corona-Pandemie einige Monate ohne Verein war, da hat mich Harry – zu der Zeit Trainer des englischen Viertligisten Oldham – mit seiner Mannschaft mittrainieren lassen für eine Woche. Eine große Sache für mich. Es war surreal, jeden Tag mit meinem Kindheitsidol auf dem Rasen zu stehen.

Jemilla: Sie ist ein ganz besonderer Mensch in meinem Leben. Ohne Jemilla wäre meine Reise als Fußballer und als Mensch bei weitem nicht das, was sie ist. Es ist ein Geschenk, wenn du jemanden hast, der dich bestärkt, erdet, aber auch aufrichtet, wenn du mal am Boden bist. Ich hoffe, dass ich diese Person auch für sie bin und gebe mein Bestes. Jemilla hat neben dem Fußball den größten Anteil daran, dass Hamburg für mich Heimat geworden ist. Sie hat dafür gesorgt, dass wir uns so gut eingelebt haben, ist mit offenen Armen auf die Leute zugegangen, auch deshalb wurden wir mit offenen Armen empfangen, haben eine gute Nachbarschaft, Freundschaften geschlossen und viele Verbindungen zu tollen Leuten geknüpft. Sie hat für dieses Leben viel aufgegeben: ihre englische Heimat verlassen, ihre Familie, ihren Job aufgegeben, um mit mir nach Hamburg zu gehen und dieses Abenteuer hier zu erleben. Ich bin unendlich dankbar dafür und ich bin glücklich, dass sie an meiner Seite und jetzt meine Frau ist. Übrigens: Nicht nur ich habe auf dem Weg zu unserer Hochzeit in Dänemark den Pass vergessen, sondern Jemilla ihren auch. Das beweist doch: Wir sind ein perfektes Match! (lacht) Im zweiten Anlauf hat es dann ja geklappt.

Jackson Irvine heiratete Partnerin Jemilla im zweiten Anlauf.
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Jackson Irvine heiratete Partnerin Jemilla im zweiten Anlauf.

Klassenerhalt: Der steht ganz oben auf der Prioritätenliste. Dafür arbeiten wir und auch ich jeden Tag im Training sehr hart, um uns weiterzuentwickeln, besser zu werden und mit jedem Spiel mehr und mehr in der Liga anzukommen. Der Klassenerhalt ist das Ziel – und das Minimum, was ich mit St. Pauli erreichen möchte. Natürlich wollen wir auch als Mannschaft mehr, aber das primäre und grundlegende Vorhaben ist, in der Bundesliga zu bleiben. Das ist die Voraussetzung und Basis für einen hoffentlich noch langen und erfolgreichen Weg mit diesem Klub.

St. Pauli-Kapitän Irvine hat kein besonderes Lebensmotto

Lebensmotto: Ich habe keins, jedenfalls keines, das sich in einen kurzen Satz fassen lässt, den man einrahmt und an die Wand hängt. Jemilla und ich scherzen oft über diese ganzen Sinnsprüche und Lebensweisheiten, die überall zu sehen sind, auf Postkarten oder Tassen. Jeder Mensch ist anders, aber ich persönlich kann mit dieser Art Botschaften oder Ratschlägen wenig anfangen. Sie sprechen mich nicht an, geben meinem Handeln keinen Sinn. Ich bin jemand, der es fühlen muss, dass er in seinem Leben auf dem richtigen Weg ist.

Musik: Eine absolute Leidenschaft, die mich emotional extrem und in meinem Innersten anspricht. Musik spielt eine sehr große Rolle in meinem Leben und gibt mir wahnsinnig viel. Das ist schon seit meiner Jugend so. Dieses Gefühl, wenn du einen Song hörst, der dir viel bedeutet oder dich an etwas erinnert, oder aber, wenn du etwas Neues entdeckst, das du noch nie gehört hast und es dich total umhaut – dieses Gefühl ist nur schwer zu beschreiben. Musik steht in einer sehr engen Verbindung zu meiner Gefühlswelt. Sie kann mir einen Kick geben, mich motivieren oder aber runterholen und entspannen. Manchmal nutze ich Musik als eine Art Tool, um durch mein Leben zu navigieren. Ich gehe gerne und oft auf Konzerte, habe als Schüler in Bands gespielt und spiele nach wie vor Gitarre. Als Jemilla und ich nach der Hochzeit in Hull waren, um ihre Familie und Freunde von uns zu besuchen, da haben ein paar von den Jungs mich überrascht, indem sie einen kleinen Auftritt organisiert haben, bei dem ich mit der Band eines Freundes von mir spielen sollte. Sie haben wirklich verdammt viel Vertrauen in mich gesteckt! Wir haben vorher ein bisschen geprobt, aber kurz vor dem Gig war ich nervöser als vor jedem Fußballspiel. Zum Glück habe ich mich ganz gut geschlagen. Es hat Spaß gemacht. Da konnte ich für einen Abend mein kleines anderes Leben als Rockstar ausleben (lacht).

Luis Coordes hat seinen Anteil daran, dass Jackson Irvine bei St. Pauli nicht die 36 trägt.
WITTERS

Luis Coordes hat seinen Anteil daran, dass Jackson Irvine bei St. Pauli nicht die 36 trägt.

Nummer: Ich bin nicht abergläubisch, was Rückennummern angeht, und sie sind mir auch nicht super-wichtig, aber sie haben schon eine Bedeutung und erzählen eine Geschichte. Obwohl ich bei St. Pauli die 7 trage und im Nationalteam die 22, ist meine Lieblings-Rückennummer die 36. Im Trikot mit der 36 habe ich für Celtic Glasgow mein Profi-Debüt bestritten. Es ist die Nummer, die auch Mark Viduka getragen hat, als er Ende der Neunziger bei Celtic spielte. Ich hatte gar nicht darum gebeten, sondern die Nummer wurde mir einfach gegeben, was für mich wirklich sehr speziell war. Ich habe danach mit Ausnahme der Leihe in Kilmarnock und den ersten beiden von drei Saisons in Hull bei jedem Verein die 36 getragen. Warum ich sie nicht auch bei St. Pauli habe, ist eine lustige Geschichte. Als ich bei der Vertragsunterschrift wie immer nach dieser Nummer fragte, sagte man mir, sie sei schon vergeben, an einen gewissen Luis Coordes. Der hatte in den Testspielen der Saisonvorbereitung fünf Minuten oder so gespielt. Ich bin dann zu ihm gegangen und habe sehr höflich gefragt: „Hey Kumpel, ich weiß nicht, wie wichtig die Nummer für dich ist, aber könnte ich sie eventuell haben?“ Er lehnte ab, weil er in dieser Nummer sein Profidebüt bei St. Pauli gegeben hatte. Okay, schade. Das Blöde war nur: Zwei Wochen später war er nicht mehr im Team! (lacht laut) Aber da hatte ich mich schon mit der 7 angefreundet. Es ist eine coole Nummer im Fußball. David Beckham hat sie getragen, Eric Cantona und vor allem: Harry Kewell. Außerdem habe ich am 7. März Geburtstag. Es passt also.

Irvine bekam einst ein unmoralisches Angebot aus China

Offerte aus China: Ein bizarrer Moment in meinem Leben als damals erst 23-Jähriger. So etwas hätte ich mir wirklich nie vorstellen können. Das war Ende 2016. Ich spielte mein erstes Jahr in England bei Burton Albion und es lief sportlich richtig gut bei mir. Eines Tages klingelte mein Telefon und jemand unterbreitete mir ein verdammt großes Angebot aus der Chinese Super League, in der gerade einiges in Bewegung war – und sehr viel Geld steckte. Ich lehnte ab. Kurz darauf war das Angebot noch größer. Ich lehnte wieder ab. Beim dritten Mal standen dann die großen Jungs meiner Berateragentur vor meiner Tür und wollten reden. Mein Vater flog auch extra aus Australien ein und wir hatten letztlich ein großes Meeting. Wir diskutierten über meine Zukunft im Fußball, Geld, mein Leben, Familie, Perspektiven, Prioritäten. Das Angebot, das auf dem Tisch lag, war wahnsinnig (umgerechnet rund 5 Millionen Euro pro Jahr, die Red.) und ich war noch so jung. Es waren schwierige Tage, aber am Ende war es doch eine einfache Entscheidung für mich. Ich habe einen Wechsel abgelehnt. Es wäre einfach nicht der richtige Schritt für mich als Spieler und meine sportliche Entwicklung gewesen. Ich muss dazu sagen, dass ich das Glück habe, in gesunden finanziellen Verhältnissen aufgewachsen zu sein. Meine Familie war und ist nicht von meiner Karriere abhängig. Ich konnte frei entscheiden. Deshalb werde ich niemanden verurteilen, der in einem solchen Fall anders handelt. Alles, was ich bis vor vier Monaten in meiner Karriere wollte, war, auf dem Toplevel zu spielen, in einer der großen Ligen der Welt – und das mache ich jetzt gerade mit St. Pauli. Ich bin glücklich, wie sich meine Karriere und mein Leben seit diesem Tag entwickelt haben. Ich habe meine damalige Entscheidung nie bereut. Ich hoffe mal, dass ich das in zehn Jahren auch noch so sage … (lacht).

Politik: Ich interessiere mich sehr dafür und verfolge genau, was in der internationalen Politik und auch in Deutschland passiert. Das Erstarken der rechten Parteien – hierzulande und in anderen europäischen Ländern oder auch in Argentinien – ist besorgniserregend, keine Frage. Es sind unruhige Zeiten und das gilt für viele Teile der Welt. Man hat das Gefühl, dass auf Fortschritte immer wieder Rückschritte folgen. Aber natürlich hofft man, dass die Menschen, wenn sie mit der ultimativen Entscheidung konfrontiert werden, welchen Weg ihr Land einschlagen soll, sich doch für die Vernunft und das, was am besten für die Mehrheit der Menschen und Gemeinschaft ist, entscheiden, wie beispielsweise in Frankreich. Was man selbst tun kann, ist in seinem eigenen Leben über gewisse Dinge zu sprechen, eine Meinung und Haltung zu vertreten, Botschaften zu senden, Werte vorzuleben, dafür einzustehen oder sich dafür stark zu machen. Man kann auch im Kleinen etwas bewirken und verbessern.

Quälerei: Was mich in meinem Leben mit am meisten nervt, ist Bürokratie, die eine Kette an Papierkram in Gang setzt, bei der Schreiben auf Schreiben auf Schreiben folgt. Oder wenn es Meetings über Meetings über Meetings gibt. So etwas ist oftmals lästig, ermüdend und wirklich eine Quälerei für mich.

Das Instagram-Video von Jackson Irvine im Celtic-Trikot ging viral.
Instagram/jacksonirvine_

Das Instagram-Video von Jackson Irvine im Celtic-Trikot ging viral.

Retrotrikot: Ich habe ein Faible für Fußballtrikots und so viele zu Hause, dass ich gar nicht weiß, wie viele es genau sind. Die Sammlung ist eine Mischung aus neuen und alten Shirts, Trikots, die ich selbst in besonderen Spielen getragen habe, Trikots, die ich mit Gegenspielern getauscht habe und Retro-Jerseys, die mir gefallen. Mein Lieblings-Trikot ist das alte Celtic-Shirt von Viduka mit der 36, das ich bei der Anreise zur WM in Katar getragen habe. Ich hätte nie damit gerechnet, dass das für so viel Aufmerksamkeit sorgt, was mich wiederum in Kontakt mit der Retro­shirt-Community gebracht hat. Im Moment gibt es bei meiner Sammlung einen Aufnahme-Stopp. Ich musste auf die Bremse treten. Es sind zu viele Trikots geworden.

Social Media hat für Irvine gute und schlechte Seiten

Social Media: Es hat Gutes, Schlechtes und alles dazwischen. Wenn man es nicht zu ernst nimmt, sondern einfach als Mittel sieht, um Aspekte deines Lebens zu teilen und sich zu connecten, dann kann es eine sehr positive Sache sein. Natürlich gibt es Risiken und es wird an dem Punkt gefährlich, wenn die Virtualität für Menschen zur vermeintlichen Realität wird. Wenn man Social Media verantwortungsvoll benutzt und im besten Sinne, dann kann es ein einzigartiger Weg sein, Menschen auf diesem Planeten miteinander in Kontakt zu bringen, die dazu sonst nie die Möglichkeit hätten.

Tattoos: Es ist eine Kunst und für mich eine weitere Form, mich auszudrücken und Dinge auszuprobieren. Ich liebe das. Über die Jahre ist einiges zusammengekommen auf meinem Körper. Meine ersten beiden Tattoos habe ich mir am gleichen Tag stechen lassen, eine Blume auf meinem Arm und den Schriftzug „Once More, With Feeling“ auf der Brust, das ist meine Lieblings-Episode der TV-Serie „Buffy“. Einige Tattoos haben eine Bedeutung, andere nicht. Ich würde sagen, es ist halb und halb. Eine ziemlich wilde Mischung aus verschiedenen Stilen, ich lege mich da nicht fest. Ich mag es, das nach und nach zu machen, immer mal wieder was Neues, wenn ich Lust darauf habe, und dann einfach schaue, wo eine gute Stelle oder noch Platz ist. Heutzutage sieht man bei Instagram oder Pinterest sehr viele Fotos von Leuten, deren Arme auf einen Schlag mit perfekt kuratierten und aufeinander abgestimmten Einzel-Tattoos zugestochen worden sind. Schaut super aus, aber ist meiner Meinung nach eine Art von Betrug (lacht). Ein paar meiner Tattoos habe ich selbst gestochen, Jemilla hat mich auch schon tätowiert. Ich habe mir kürzlich zwei neue Tattoos machen lassen (schiebt das Shirt hoch und zeigt die Rückseite seines Oberarms). Das angekündigte Aufstiegs-Tattoo habe ich noch nicht – vielleicht hätte ich es sofort danach machen sollen, aber mir fehlte irgendwie die richtige Idee. Ehrlich gesagt: Mein Fokus liegt gerade auch nicht auf der letzten Saison und zurückliegenden Erfolgen, sondern auf der Gegenwart und Zukunft und der Frage: Wie gewinnen wir das nächste Spiel? Aber das Aufstiegs-Tattoo kommt schon noch irgendwann – ich stehe zu meinem Wort. Es ist jedenfalls noch genügend Platz auf meiner Haut und es gibt noch einige Lücken, die zu füllen sind.

Tattoo-Fan: Ganz oben auf dem Arm von Jackson Irvine sind die beiden neuesten Kunstwerke auf seiner Haut zu bewundern.
WITTERS

Tattoo-Fan: Ganz oben auf dem Arm von Jackson Irvine sind die beiden neuesten Kunstwerke auf seiner Haut zu bewundern.

Urlaub: Ich liebe es zu reisen, andere Länder und Menschen zu erleben und spannende Orte zu entdecken. Ich hatte das Glück, als Kind mit meinen Eltern einige Reisen machen zu können. Das hat früh meinen Horizont erweitert und den Blick auf die Welt geprägt. Als Fußballprofi bist du nicht gerade mit einer Unmenge an freier Zeit am Stück gesegnet, was keine Klage sein soll, sondern eine Feststellung. Zum Glück komme ich auf den Reisen mit dem Nationalteam viel herum und sehe interessante Orte. Die Zeit, die ich für privaten Urlaub habe, versuchen Jemilla und ich bestmöglich nutzen. Natürlich stehen auch immer Besuche bei unseren Familien ganz oben auf der Liste, aber als nächstes wollen wir unbedingt mal was ganz anderes machen.

Vegemite (ein in Aus­tralien bekannter würziger Aufstrich): Ich liebe es! Das ist typisch australisch, sehr speziell. Die einen lieben es, die anderen hassen es – und es gibt nichts dazwischen. Ich habe einen Vorrat zu Hause, weil mir immer mal wieder jemand, der aus Australien zu Besuch kommt, ein Glas mitbringt. Die absolute Winner-Kombination: Vegemite-Avocado.

Irvine: „Eine Fußball-WM ist mit nichts zu vergleichen“

Weltmeisterschaft: Eine Fußball-WM ist mit nichts zu vergleichen und hat ein ganz spezielles Feeling, was vor allem mit den Fans aus den unterschiedlichen Ländern zu tun hat, ihren Kulturen, ihrer Musik, Gesängen und Tänzen. Ich habe das große Glück und Privileg, bei zwei Weltmeisterschaften als Spieler dabei gewesen zu sein und eine als Fan erlebt zu haben, 2006 in Deutschland. Ich war im Stadion in Kaiserslautern, als Australien gegen Japan mit 3:1 gewonnen hat, ein irres Spiel, in dem die Socceroos in den letzten zehn Minuten drei Tore geschossen haben. Das war einer der prägendsten Momente meines Lebens in Bezug auf Fußball. Und ich war in München beim Spiel Australien gegen Brasilien. Ich freue mich schon auf mein zweites Mal in der Allianz-Arena – mit St. Pauli. Mein größtes sportliches Ziel neben dem Klassenerhalt ist die Qualifikation mit dem Nationalteam für die WM 2026. Da wäre ich liebend gerne dabei. Und nach meiner aktiven Karriere will ich Weltmeisterschaften wieder als Fan erleben. Da werde ich definitiv auf Reisen gehen.

Xbox: Gaming ist nichts für mich. Als Kind habe ich mal ein bisschen Playstation gespielt, „Tony Hawk’s Pro Skater 4“, ein Skateboard-Spiel, aber das war es. Seitdem nicht mehr.

Betrachtet die Welt aus einem anderen Blickwinkel als viele andere Fußballer: Jackson Irvine
WITTERS

Betrachtet die Welt aus einem anderen Blickwinkel als viele andere Fußballer: Jackson Irvine

Yellow: Habe ich oft gesehen. Gelbe Karten sind ein relevanter Teil meiner Karriere – unglücklicherweise (schmunzelt). Die meisten habe ich bekommen, weil ich zu viel rede auf dem Rasen. Was mich am modernen Fußball wirklich frustriert, ist, dass eine gewisse Leichtigkeit verloren gegangen ist, was auch damit zusammenhängt, dass alles, was auf dem Feld passiert – jeder Zweikampf, jede Geste, jedes Wort, das du sagst – aus allen Winkeln gefilmt, unter die Lupe genommen, seziert und gewisse Szenen gehighlightet werden. Gerade der emotionale Aspekt des Spiels, das ja von Emotionen lebt, wird immer mehr eingeengt und Momente, in denen sie mal aus dir herausbrechen, kleinlicher geahndet. Als Spieler musst du sehr vorsichtig sein.

Zukunft: Im Moment ist meine Zukunft hier, deshalb habe ich vor Saisonbeginn meinen Vertrag vorzeitig verlängert. Sportlich liegt mein Fokus darauf, mit St. Pauli in der Bundesliga zu bleiben und mich mit dem Nationalteam für die nächste WM zu qualifizieren. Was mein Privatleben angeht, bin ich niemand, der große Pläne schmiedet. Jemilla und ich leben sehr in der Gegenwart. Natürlich reden wir auch mal über unsere Zukunft, aber wir haben gerade ein erfülltes Leben, das wir sehr genießen und versuchen, das Beste aus dem Hier und Jetzt zu machen, anstatt zu weit vorauszuschauen. Lange Zeit stand für mich fest, dass ich nach meiner Karriere nach Australien zurückgehen und dort leben werde, mittlerweile bin ich jedoch mehr mit Europa und der hiesigen Lebensweise verbunden. Aber hey, wer weiß schon, was die Zukunft bringt und wie es mit dem Fußball aussieht in den nächsten Jahren?! Das perfekte Szenario wäre für mich, irgendwann mal im endlosen Sommer zu leben und zwischen Europa und Australien zu pendeln. Der Haken ist, dass solche Vorhaben meistens an der Realität scheitern.

Liebe, Leben, Leidenschaften: St. Pauli-Kapitän Irvine privat wie nie wurde gefunden bei mopo.de

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