Russland und Alexej Nawalny | Biograf Sweeney: “Putin war völlig blamiert”

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Wladimir Putin beherrscht Russland nahezu unumschränkt, ein Mann flößte dem Kremlchef allerdings Furcht ein. Wie Alexej Nawalny das gelungen ist, erklärt Journalist John Sweeney. Russlands Machthaber Wladimir Putin gilt als hart und erbarmungslos, doch er hatte eine Schwäche: Seine Furcht vor Alexej Nawalny , dem hartnäckigsten Kritiker des Kremlregimes, der im Februar 2024 im Straflager starb. Warum ängstigte sich Putin vor Nawalny? Was trieb Nawalny an und bisweilen auf Abwege? Und warum wagte sich der Gegner Putins nach seiner Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok 2021 wieder nach Russland , wo sein Leben bedroht war? Diese Fragen beantwortet John Sweeney, Journalist und Russlandexperte, der gerade sein Buch “Der Fall Nawalny – Mord im Gulag” veröffentlicht hat, im Gespräch. t-online: Herr Sweeney, wie sehr fürchtete Wladimir Putin seinen Gegenspieler Alexej Nawalny? John Sweeney: Putin hatte eine geradezu krankhafte Angst vor ihm. Lange Zeit hat er sich nicht einmal getraut, Nawalnys Namen auszusprechen. Wir kennen und fürchten Putin als hyperaggressiven Machthaber, aber er hat noch eine ganz andere Seite. Da ist Putin schüchtern, übervorsichtig und, ja, geradezu verweichlicht, wie man es in seinen Kreisen ausdrücken würde. Ich gehe davon aus, dass Putin das Impostor-Syndrom hat. Das sogenannte Hochstapler-Syndrom? Daran leidet er vermutlich. Wahrscheinlich schreckt Putin hin und wieder aus dem Schlaf auf – und denkt in diesen Augenblicken, all dies nicht verdient zu haben, was er bislang erreicht hat. Dann wird Putin noch aggressiver, um sich seinen Wert zu beweisen. Ist das Ihre Erklärung für den Giftanschlag auf Nawalny 2020 und seine mutmaßliche Ermordung in einem Straflager nördlich des Polarkreises vier Jahre später? In gewisser Weise. Nawalny war ein echter Freigeist, hochgewachsen, gut aussehend und charismatisch, ausgestattet mit einem wunderbaren, schelmischen Sinn für Humor, der geradezu unverwüstlich war. Damit machte er sich über Putin lustig, der keine einzige von Nawalnys Eigenschaften für sich in Anspruch nehmen kann. Putins Humor ist eher grober Natur, er genießt es, andere Menschen zu demütigen. Wie sehr hat wiederum Nawalny Putin gefürchtet? Ich glaube, dass Nawalny keine Angst hatte. Er war angewidert von Putin, empört über die Korruption und den Diebstahl. Aber Furcht? Nein. Putin war Nawalny gegenüber wesentlich neurotischer als umgekehrt. Warum aber widmete Nawalny sein Leben dem Kampf gegen das mörderische Regime? In Ihrem aktuellen Buch “Der Fall Nawalny – Mord im Gulag” ergründen Sie die Beweggründe für sein Handeln. Nawalny war ein Getriebener. Wenn man es mit jemandem wie dem Herrscher des Kremls aufnimmt, dann darf man nicht unentschlossen sein. Es braucht den absoluten Fokus auf das Ziel. Nawalny sprach die Wahrheit aus, darum fürchtete ihn Putin so sehr. Im Vergleich zu Nawalny ist Putin ein Zwerg. Warum hast du dies getan, warum hast du das getan? Solche Fragen wurden Nawalny immer wieder gestellt. Die Antwort war immer dieselbe: um den Tyrannen zu stürzen. Nawalny nahm einst an ultrarechten Veranstaltungen, den sogenannten “Russischen Märschen” in Moskau teil, in mehreren Videos äußerte er früher offenen Rassismus , gründete eine weit rechts stehende Gruppierung. War der Korruptionsbekämpfer zumindest während dieser Zeit ein Rechtsextremist? Nawalny gehörte eigentlich nicht zur extremen Rechten, aber er arbeitete mit ihr zusammen. Und das war vollkommen töricht. Nawalny war so besessen davon, Putin loszuwerden, dass ihn der gesunde Menschenverstand verließ. Was Nawalny während dieser Zeit in zwei Kurzvideos von sich gab, war ekelhafter Rassismus. Beim “Russischen Marsch” begleitete ihn allerdings eine jüdische Freundin, Jewgenija Albaz, die ihrerseits vor aller Augen ein Banner mit dem Davidsstern schwenkte. Was bewegte Nawalny dazu, sich als Rechtsextremist und Nationalist zu gebärden? Nawalny experimentierte ständig, suchte nach immer neuen Wegen, um den Kreml kleinzukriegen. Er merkte zu spät, wie sehr ihm dieser Flirt mit den extremen Rechten geschadet hat. Später – als er schon etwas anderes aus sich gemacht hatte – stand ihm wohl seine Arroganz im Weg, diesen Fehler offen zuzugeben. 2014 sorgte Nawalny dann in der Ukraine für Empörung, als er nach der Besetzung der Krim sagte, dass die Halbinsel wohl russisch bleiben werde. Spätestens seit dieser Äußerung galt Nawalny den Ukrainern als russischer Imperialist, ja. Er agierte damals unglücklich, befand sich aber in der Zwickmühle: Sich auf die Seite der Ukraine als rechtmäßige Besitzerin der Krim zu stellen, hätte ihn in Russland massiv Sympathien gekostet. Darum wand er sich so in dieser Frage. Was wollte Nawalny für Russland erreichen? Nawalny wollte Putin aus dem Kreml jagen, das war sein größtes Ziel. Auch der Korruption hatte Nawalny den Kampf angesagt. Klar, Korruption herrscht in allen Ländern dieser Welt, aber in Russland ist sie völlig außer Kontrolle. Nicht zuletzt war Nawalny ein Anhänger von Demokratie und Rechtsstaat. Russland ist ein reiches Land, ein Land, dem es so gut gehen sollte wie den Baltischen Staaten zum Beispiel. Aber die eigene Elite bestiehlt Russland hemmungslos. Nawalny hingegen liebte Russland und seine Menschen wirklich. Alexej Nawalny hinterlässt eine ambivalente Bilanz. Nachdem Sie ein ganzes Buch über ihn geschrieben haben: Welches Fazit ziehen Sie? Nawalny war ein Held, allerdings ein Held mit Fehlern. Es ist wichtig, seine ganze Geschichte zu kennen, um ein Urteil über Nawalny fällen zu können. Bei all seinen Stärken hatte er auch ein gewisses Handicap. Nawalny war ein “typisches Militärkind”, er hatte keine so gute Ausbildung wie die Kinder der Eliten, wie es die schon erwähnte Jewgenija Albaz, eine bedeutende russische Journalistin, auf den Punkt brachte. Nawalny hatte keine noble Universität besucht, Englisch musste er sich selbst beibringen, wie so viele andere Dinge. Das erklärt, warum er bisweilen so vorging, wie er es tat. Worauf spielen Sie an? Nawalny mangelte es aufgrund seiner Herkunft an einer gewissen Kultiviertheit und Raffinesse, er betrachtete die Dinge auf eine überaus originelle Art und Weise. Das war Fluch und Segen zugleich. Einerseits konnte er nicht wie andere schauspielern, andererseits machte ihn gerade der Mangel an Raffinesse zu dem erstaunlichen Anführer und Entscheider, der eine exakte Vorstellung davon hatte, wie dieser oder jener Plan gegen den Kreml ausgeführt werden musste. Nawalnys letzter großer Plan gegen Putin endete allerdings in einer Katastrophe: Nach seiner Vergiftung mit Nowitschok kehrte Nawalny Anfang 2021 nach Russland zurück, was sich letztlich als sein Todesurteil erwies. Warum ging er das Risiko ein? Nawalny hatte mit seiner Rückkehr nach Russland eine Wette abgeschlossen – und zwar, dass er mittlerweile zu berühmt geworden war, um ermordet zu werden. Allerdings ging sein Kalkül nicht auf, was drei Gründe hat: Zunächst hatte Nawalny auf den Friedensnobelpreis 2021 gehofft. Einen Nobelpreisträger ermorden? Das wäre selbst für Putin verdammt gewagt. Dann bekam Nawalny den Preis allerdings nicht, sein früherer Flirt mit dem Rechtsextremismus stand dem wohl im Wege. Im Februar 2022 änderte dann die russische Vollinvasion der Ukraine die Spielregeln im Land? Das ist der zweite Grund, ja. Dieser Krieg ist eine gewaltige Sache, er machte Russland dem Kreml gegenüber viel loyaler. Zusätzlich unterdrückt das Regime internen Dissens, so ist es im Krieg nun einmal. Putins innenpolitischer Griff nach der Macht wurde viel, viel stärker. Und dann kam im Februar 2024 das Interview des amerikanischen Rechtspopulisten Tucker Carlson mit Wladimir Putin … … Nawalny war kein Thema in diesem sogenannten Interview. So ist es! Carlson erwähnte Nawalny nicht einmal in diesem abscheulichen Interview. Nawalny saß im Lager, er litt und wurde gefoltert – und da schafft Carlson nicht einmal, Nawalnys Namen zu erwähnen? Das ist erbärmlich, das ist widerwärtig. Putin wird seine Schlüsse daraus gezogen haben. Was geschah mit Alexej Nawalny im Straflager “Polarwolf”, als er Mitte Februar 2024 dort starb? Hatte Putin seinen Tod beschlossen? In Russland ist es sehr schwierig, Fakten zu überprüfen, denn macht man das gründlich, ist man am Ende tot. Diesen Satz habe ich in meinem Buch geschrieben – und er ist wahr. Mutige Menschen wie Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Boris Nemzow und Alexej Nawalny haben die “Wahrheiten” des Kremls mir gegenüber infrage gestellt, sie wurden allesamt ermordet. Ich kenne keine Details, bin aber davon überzeugt, dass auch Nawalny umgebracht worden ist. Den einen Tag war er wohlauf im Straflager und machte Witze, den nächsten war er plötzlich tot. Das ist doch merkwürdig. Sie haben sowohl Putin als auch Nawalny persönlich interviewt. Was war der größte Unterschied zwischen ihnen? Alexej Nawalny hat bereits im Alter von rund zehn Jahren verstanden, dass an der sowjetischen Seele etwas grundsätzlich faul war. Das hat Putin im Alter von 71 Jahren immer noch nicht kapiert. Die Familie von Nawalnys Vater stammte aus der Gegend von Tschernobyl , wo 1986 ein Reaktorunfall bereits Menschenleben kostete und sowjetische Inkompetenz und Geheimniskrämerei dann noch mehr. Damals erkannte Nawalny, dass den Menschen die Wahrheit gesagt werden muss. Ein Staat, der seine Bürger anlügt, hat etwas Teuflisches. Nach Nawalnys Tod sagt den Menschen in Russland niemand mehr die Wahrheit. Was ist sein Vermächtnis? Russland wird wegen dieses brutalen Krieges gegen die Ukraine über Generationen hinweg in Schande leben. Mit Nawalny gibt es aber einen Mann, auf den die Menschen zukünftig schauen können. Ein mutiger Mann, der den Russen früh und eindringlich sagte, dass Putins Regime böse ist. So gesehen wird Nawalny weiterleben. Auch seine Frau Julija wird die Erinnerung an ihn wachhalten. Was aber in den nächsten Wochen und Monaten in Russland vorgehen wird, hängt letztlich auch von den USA ab. Halten Sie die Wiederwahl Donald Trumps für wahrscheinlich? Ich fürchte es. Joe Biden ist schwach und ängstlich, wenn Trump zurückkehrt, wird es richtig schlimm. Aber selbst im Falle des Sieges von Kamala Harris ist die Zukunft ungewiss. Seit der Irak nach der US-Invasion vor mehr als 20 Jahren auseinanderfiel, herrscht in den Vereinigten Staaten eine traumatische Furcht vor vergleichbaren Ereignissen. Putin weiß die amerikanische Angst vor einem Zerfall Russlands ebenso gut zu nutzen wie die deutsche vor einem Atomkrieg. Putin ist ungeheuer gerissen. Wenn ich Leute wie Trumps auserkorenen Vizepräsidentschaftskandidaten J. D. Vance sehe, der die Lügen des Kremls verbreitet, stelle ich mir die Frage: Wie kann man nur so ignorant sein? Russland ist eine Kleptokratie, das Regime ist eine dunkle Macht, das seine Gegner und jeden, der ihm irgendwie in die Quere kommt, ermordet und in andere Länder einmarschiert. Für nichts weiter als Putins absurden und bizarren Glauben, dass der Untergang der Sowjetunion die “größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts” gewesen sei. Das ist doch ein verdammter Witz. Wie erfolgreich ist Nawalny in seinem Kampf gegen Putin gewesen? Mit zwei Filmen auf YouTube hatte Nawalny gewaltigen Erfolg. In dem einen telefonierte Nawalny mit einem der Hauptakteure der Giftmörder, die es auf ihn abgesehen hatten, und ließ sich erzählen, welche Farbe die Unterhose hatte, auf die sie das für Nawalny bestimmte Gift ausgebracht hatten. Das ist doch fantastisch! Das andere Video zeigt Putins Protzpalast am Schwarzen Meer, mehr als 100 Millionen Menschen haben es sich angesehen. Die Filme werden bei Putin Furcht und Zorn zugleich ausgelöst haben. Putin war völlig blamiert – und er selbst ziemlich bösartig und rachsüchtig. Die Ironie besteht darin, dass Nawalny als Politiker gescheitert ist, aber als Journalist mit den beiden Videos ungeheuer erfolgreich war. Damit hat er Putin wirklich besiegt. Wissen Sie übrigens, zu welcher Musik Nawalny bestattet worden ist? Zu einem ganz bestimmten Song aus dem Hollywood-Blockbuster “Terminator 2” mit Arnold Schwarzenegger . “Ich komme wieder”, so lautet Schwarzeneggers berühmtester Satz. Wenn das kein letztes “Fuck you” noch aus dem Grab heraus in Richtung Putin war, dann weiß ich auch nicht. Herr Sweeney, vielen Dank für das Gespräch.

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