Schüsse und Verbrechen im Phoenix-Viertel: „Die Menschen haben Angst auf der Straße“

Schüsse und Verbrechen im Phoenix-Viertel: „Die Menschen haben Angst auf der Straße“

Der Ruf der Wilstorfer Straße im Harburger Phoenix-Viertel ist schlecht. Zahlen belegen Gewalt, Drogendealerei, illegales Glücksspiel und viele Menschen, die finanziell zu kämpfen haben. Vergangene Woche schockierte eine Schießerei zur Kaffeestunde auf offener Straße die Anwohner und Geschäftstreibenden des ehemaligen Arbeiterviertels. Dabei wohnen viele Harburger gerne in ihrem Kiez. Die MOPO schaute sich um, sprach mit Anwohnern und Geschäftsleuten und fragte: Wie wohnt und arbeitet man in einer der gefährlichsten Straßen der Stadt?

Franziska Siewers lebt seit acht Jahren in der Wilstorfer Straße. Eine kleine Wohnung nach hinten raus in einem verwitterten Altbau. Als die beiden Männer aus dem Rotlichtmilieu mitten am Tag aneinander gerieten, lief die 32-Jährige gerade mit ihrer Tochter auf der anderen Straßenseite: „Ich sah die beiden wild gestikulieren, sie wurden immer lauter und waren total aggressiv. Da ahnte ich schon, dass die Situation gleich eskaliert.“ „Schnell ins Haus“, sagt sie angespannt und schiebt ihre Tochter in den Hauseingang. Franziska Siewers schließt die Haustür, fühlt Erleichterung. „Dann fiel der Schuss“, sagt sie. Und ergänzt: „Es ist auch gar nicht lange her, da wurde direkt bei uns vor der Tür einer niedergestochen. Ich fühle mich hier nicht wirklich sicher.“

„Hier wird ein- und ausgezogen“

Doch der Wunsch, in der Nähe der geliebten Schwiegermama zu leben, bewegte Siewers und ihren Partner zum Umzug aus dem beschaulichen Itzehoe ins berüchtigte Phoenixviertel. „So schlimm ist das hier auch nicht. In Itzehoe hingegen konnte ich es nicht aushalten, wenn ich zu Besuch war. Da erschreckte man sich ja fast, wenn nur mal ein Auto durch die Straße fuhr“, sagt Schwiegermama Monika Sobottka lachend. Die 76-jährige wohnt seit 34 Jahren in dem Haus in der Wilstorfer Straße und freut sich, die Familie im Haus zu haben. Sie will in Harburg bleiben, das steht fest. „Ich bekomme hier gar nichts mit von Gewalt oder Drogen. Ich kümmere mich nicht um die anderen Leute draußen, das geht mich nichts an.“ Alles was sie brauche sei direkt vor der Tür, die Liebsten wohnen nur eine Etage tiefer, das sei das Wichtigste für sie. Die anderen Nachbarn kenne sie nicht. „Hier wird ein- und ausgezogen“, sagt sie.

Marius Röer
Yasa (44) arbeitet in einem Herrenfriseur an der Wilstorfer Straße.

Yasa (44) arbeitet in einem Herrenfriseur an der Wilstorfer Straße.

Marius Röer
Anwohnerin Monika Sobottka (76) auf ihrem Sofa

Anwohnerin Monika Sobottka (76) auf ihrem Sofa

Marius Röer
Anwohnerin Franziska Siewers (32) mit Tochter Janina (5)

Anwohnerin Franziska Siewers (32) mit Tochter Janina (5)

Marius Röer
Ömer Bürlükkara (43) in seinem Frühstückcafé an der Wilstorfer Straße

Ömer Bürlükkara (43) in seinem Frühstückcafé an der Wilstorfer Straße

Im Jahr 2023 stieg die Zahl der Fälle der Gewaltkriminalität im Umfeld des Phoenix-Viertels um 29,3 Prozent auf 410 Fälle, im Vergleich zu 2022. Im Juni wurde vor Sobottkas Haus ein 17-Jähriger angeschossen, im Oktober 2023 erlitten zwei Männer in einem nahe gelegenen Hinterhof Schussverletzungen. Zwei Jahre zuvor, im November 2021 schoss ein 55-Jähriger auf der Straße auf zwei Arbeitskollegen.

Die Polizei bestätigt eine erhöhte Belastung in allen Kriminalitätsbereichen vor Ort und wirkt der Entwicklung mit dementsprechend großem Engagement entgegen. Ein Beispiel ist der verstärkte Einsatz von zivilen und uniformierten Beamten im Kampf gegen die öffentliche Drogenszene. Polizeisprecher Thilo Marxen: „Die Polizei engagiert sich hier tagtäglich, damit sich keine Hotspots etablieren können, um das Sicherheitsgefühl der Bewohnenden des Quartiers zu stärken.“ Ebenso engagieren sich zahlreiche Vereine und Initiativen mit verschiedensten Hilfsangeboten für die Menschen im Viertel, in dem mehr als 50 Prozent mit Migrationsgeschichte leben.

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Gegenüber des Einkaufszentrums steht Yasa mit einem Glas Tee in der einen Hand, der Zigarette in der anderen, vor seinem Laden und beobachtet das Treiben vor der Tür. Seit 14 Jahren arbeitet der aus der Türkei stammende 44-Jährige in einem der inzwischen acht Herren-Friseur-Geschäften, die sich auf einem Abschnitt von nur rund 300 Metern der Straße ballen. Die Geschäfte liefen schon sehr viel besser, sagt er. „Die Leute haben Angst auf die Straße zu gehen, das ist wohl so. Und ich kann das verstehen. Früher, also lange vor Corona, war es ruhiger. Da wurde nicht gleich zugestochen oder geschossen“, sagt er.

dpa
Ein Opfer einer Schießerei in Harburg.

Ein Opfer einer Schießerei in Harburg.

Ein paar Geschäfte weiter bietet Ömer Bürlükkara hinter einem beleuchteten Tresen verschiedenste türkische Backwaren an. Der süßliche Geruch von warmem Blätterteig, das gedämmte Licht und die authentische Einrichtung lassen einen die Tristesse auf der Straße direkt vergessen. Seit sieben Jahren führt der 43-Jährige das beliebte Frühstückscafé und ist zufrieden. „Die Mischung der Geschäfte sei besser geworden, mehr Gastro, weniger Kulturvereine. Früher war es schlimmer hier“, sagt er und bewertet die Lage genau anders, als sein Nachbar einige Türen weiter. Ömer kümmere sich um den Laden, arbeite von früh bis spät. „Abends, wenn die Leute besoffen sind, das macht manchmal Probleme“, erzählt er, aber dann hat er Feierabend und geht nach Hause.

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Mit blauem Auge und kräftiger Schlagseite bahnt sich Karl (56) seinen Weg die Wilstorfer Straße entlang. „Da ist Totentanz in der Kneipe“, sagt er kontaktfreudig. Und fügt hinzu: „Das lohnt sich nicht da reinzugehen.“ Doch Karl war drin im „Corner“, einer der von der Polizei nicht selten durchsuchten Eckkneipen der Straße. Um 11.15 Uhr an einem Dienstag war Karl der einzige Gast. Nur ein, zwei Kleine habe er schnell am Tresen gehoben. Nicht viel, sagt er mit schwerer Zunge. Er trinke eigentlich nicht viel.

Burgunderbraten, Arschgeige und Deutschlandticket

Karl erzählt, dass er 30 Jahre gegenüber der Kneipe bei Continental „malocht“ hat, was früher die Phoenix AG war, eine große Gummiwarenfabrik, nach der das Viertel benannt ist. „Damals habe ich gebrannt fürs Staplerfahren“, sagt Karl mit rollendem r und fängt an, in Erinnerungen zu schwelgen. Sein Harburg. Sein Job. Sein Leben. Er spricht vom besten Burgunderbraten der Straße damals, über den Idioten, der ihm das blaue Auge verpasst hat vergangene Woche. Und endet mit einem Lob über das Deutschlandticket, was ihn immer noch täglich von Zuhause in die Wilstorfer Straße bringt, seitdem sein Auto verreckt sei. Vor sechs Jahren schon hat er seinen Job als Staplerfahrer wegen Restalkohol verloren. Seit sechs Jahren fährt er trotzdem fast täglich in „sein“ Viertel.

Schüsse und Verbrechen im Phoenix-Viertel: „Die Menschen haben Angst auf der Straße“ wurde gefunden bei mopo.de

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