„War unvorstellbar!“ Wie konnte es dazu kommen, dass St. Pauli vor dem HSV steht?

„War unvorstellbar!“ Wie konnte es dazu kommen, dass St. Pauli vor dem HSV steht?

Ein Derby wie dieses hat es noch nicht gegeben, zumindest nicht, seit der moderne Fußball existiert. Unabhängig vom Ausgang des Stadtduells wird der FC St. Pauli die Saison vor dem HSV beenden, erstmals seit 1954. Wer das vor wenigen Jahren für möglich gehalten hätte, dem wäre vermutlich das Aufsuchen eines guten Arztes empfohlen worden. So ergibt sich eine verrückte Ausgangslage vor dem Stadtduell, das gleichermaßen für Spannung, Kopfzerbrechen und Euphorie sorgt und von der Frage begleitet wird: Wie konnte es dazu kommen?

Es wird diskutiert. Überall in der Stadt und insbesondere dort, wo man es gewohnt ist, das Maß aller Dinge zu sein. Die beiden Rentner, die sich kürzlich auf den Weg in den Volkspark machten, um das Training der HSV-Profis zu verfolgen, waren sich schnell einig. „Jetzt sind wir schon so schlecht geworden, dass sogar St. Pauli besser ist“, sagte der eine und erntete ein zustimmendes Kopfnicken seines Begleiters. Nach einer kurzen Gesprächspause folgten dann sechs Wörter, die alles ausdrücken, was man aus HSV-Sicht zu dem Thema noch wissen muss: „Ach nee, Mann. Scheun Schiet, echt.“

St. Pauli steht nach 70 Jahren erstmals wieder vor dem HSV

Es ist also tatsächlich so weit. St. Pauli als sportlicher Vorreiter der Stadt, erstmals seit 70 Jahren. Verdammt lang’ her. Elvis Presley veröffentliche damals gerade seine ersten beiden Songs, Konrad Adenauer war Kanzler und die Helden von Bern bereiteten sich auf ihren großen WM-Wurf vor. Und ja: Dass es nun erneut zum sportlichen Führungswechsel kommt, hat eine Menge mit dem schleichenden, 15 Jahre langen Niedergang des HSV zu tun. Doch wer ausschließlich so denkt, springt zu kurz. Denn was gerade in Hamburg passiert, ist zumindest auf diese Saison bezogen nichts anderes als das Resultat der Stärke des Kiezklubs.

Europacupsieger, Meister, DFB-Pokalsieger: Uli Stein (69) war mit dem HSV das Maß der Dinge.
WITTERS

Europacupsieger, Meister, DFB-Pokalsieger: Uli Stein (69) war mit dem HSV das Maß der Dinge.

Das sieht auch Uli Stein so, der zu seiner aktiven HSV-Zeit (1980 bis 1987) mit den Rothosen so weit von St. Pauli entfernt war wie nun die Bayern vom SV Meppen. Der 69-Jährige stand damals im Tor des besten Teams Europas und sagt nun: „Dass St. Pauli mal vor dem HSV stehen könnte, war unvorstellbar.“ Die Unterschiede seien so groß gewesen, „es gab nicht mal eine Rivalität. St. Pauli spielte meistens zwei Klassen unter uns. Wir haben regelmäßig Freundschaftsspiele ausgetragen, damit die beiden großen Vereine der Stadt überhaupt mal aufeinandertrafen.“

Nun wendet sich das Blatt. Alles deutet darauf hin, dass der Kiezklub ab Sommer erstmals eine Liga über dem HSV spielen wird. „Da würde mir das Herz bluten“, sagt Stein. „Aber Hut ab vor St. Pauli. Sie haben sich das total verdient, so fair muss man sein.“

St. Pauli machte mit Trainer Fabian Hürzeler alles richtig

Wie aber konnte es dazu kommen? Wie ist es möglich, dass der Kiezklub, der vor 15 Monaten noch den Absturz in die Dritte Liga fürchten musste, den HSV nun in ziemlich souveräner Manier als sportliche Nummer eins der Stadt ablöst?

Am Ende liegt die Antwort darauf vermutlich in einer einzigen Entscheidung begründet, die kurz vor Weihnachten 2022 fiel. Da ernannten sie am Millerntor Fabian Hürzeler zum Nachfolger des entlassenen Timo Schultz, ein mutiger Entschluss, für die St. Paulis Geschäftsleiter Sport Andreas Bornemann viel Skepsis und wenig Applaus erntete. Letztlich erwies sich die Maßnahme als goldener Griff, der mit dem Aufstieg enden dürfte. In bislang 48 Ligaspielen sammelte Hürzeler beeindruckende 104 Punkte (im Schnitt 2,17 pro Partie), verlor dabei nur ganze sechs Spiele. Seit Anfang 2023 schwebt St. Pauli. Und genau darin liegt der Unterschied zum HSV.


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So sehr der Verein im selben Zeitraum versuchte, mit Trainer Tim Walter Kontinuität zu leben, so selten waren längere Phasen sportlicher Konstanz. Trotz des aus Sicht aller Experten besser bestückten Kaders stand die Häufung der Rückschläge und Zweifel im krassen Gegensatz zur Beständigkeit und fußballerischen Weiterentwicklung am Millerntor. St. Pauli fand in Hürzeler den Schlüssel, den der HSV in sechs Jahren Zweitklassigkeit bislang vergeblich suchte, darauf kann man es herunterbrechen.

HSV wird trotzdem der größere Klub in Hamburg bleiben

Und dennoch, eine richtige Wachablösung wird es nicht geben. Die Uhren in Hamburg schlagen anders, der HSV ist zu groß und bedeutend, um plötzlich die kleinere Nummer zu sein. Mehr als 1800 Fanklubs gegen rund 400 des Nachbarn. 110.000 Mitglieder gegenüber 40.000. Ins Volksparkstadion (57.000 Plätze) passen fast doppelt so viele Fans wie ans Millerntor. Auch das Medieninteresse am HSV ist deutlich größer, etwa viermal so hoch, wie belastbare Werte belegen. Dieser Führungswechsel ist ein rein sportlicher, dessen sind sie sich auch in den Reihen des Kiezklubs bewusst.

Und doch birgt er für den HSV Gefahren in sich. Je länger er der klassentiefere Klub bleibt, desto rapider würde sein wirtschaftlicher Vorsprung schmelzen. So könnten die HSV-Bosse im kommenden Zweitligajahr mit knapp 17 Millionen Euro an TV-Geldern rechnen, während St. Pauli (lag zuletzt bei zwölf Millionen) im Oberhaus 34 Millionen Euro einstreichen würde. Sollte das mehrere Jahre lang so bleiben, könnten sich die Kräfteverhältnisse in der Stadt weiter in Richtung Kiez verschieben. Uli Stein hält das für möglich und sagt: „St. Pauli erinnert mich an Freiburg oder Heidenheim. Ich traue ihnen zu, dass die sich in der Bundesliga festbeißen.“

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Zukunftsmusik. Noch ist der sportliche Führungswechsel eine Momentaufnahme in der langen Historie beider Klubs. Er verursacht Schmerzen auf der einen und entfacht Glücksgefühle auf der anderen Seite. Oder um es mit Steins Worten zu sagen: „Wahrscheinlich können beide Lager gar nicht verstehen, was gerade passiert.“ Vor einem Stadtduell, das es so noch nie gab.

„War unvorstellbar!“ Wie konnte es dazu kommen, dass St. Pauli vor dem HSV steht? wurde gefunden bei mopo.de

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