Attacke auf Baumarkt: Selenskyj macht Druck auf den Westen

Attacke auf Baumarkt: Selenskyj macht Druck auf den Westen

Die Attacke auf einen Baumarkt zeigt das ganze zynische Kalkül des russischen Präsidenten. Und es offenbart das Dilemma, das die Ukraine derzeit plagt. Dichter, schwarzer Rauch schießt in großen Schwaden aus dem Gebäude. Flammen lodern meterhoch. Die Szenen auf dem Gelände eines Baumarkts in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw gleichen einem Inferno. Schwer vorstellbar, dass jemand diese Flammenhölle überleben konnte. Und doch melden die ukrainischen Behörden 44 teils schwer Verletzte, die nach einem Angriff durch russische Gleitbomben aus dem Baumarkt gerettet werden konnten. Für 14 andere kam jede Hilfe zu spät, sie verbrannten, erstickten oder wurden den Bombensplittern zerfetzt, die den Markt am Samstag auseinanderrissen. So sieht er aus, der Angriffskrieg, den Russlands Diktator Wladimir Putin gegen die Ukraine führt. Der Tod kommt aus der Luft. Wo eben noch Menschen, Handwerker, Familienväter und Mütter ihre Einkaufswagen durch die Gartenabteilung schoben oder auf der Suche nach einer neuen Bohrmaschine waren, waten die Rettungskräfte bald darauf nur noch durch Aschehaufen und verkohlte Überreste. Zu sehen ist das unter anderem auf Videos, die westliche Nachrichtenagenturen vom Ort der Attacke verbreiten. Ein Mitarbeiter des Baumarkts berichtete, beide Einschläge seien kurz nacheinander erfolgt. “Ich hörte den ersten Treffer, und mein Kollege und ich fielen zu Boden”, sagte der 26-jährige Dmytro Syrotenko, der im Gesicht verletzt wurde. “Es gab einen zweiten Einschlag und wir wurden mit Trümmern bedeckt.” Charkiw: Bomben auf eine Druckerei, verkohlte Leichen 400 Rettungskräfte und Feuerwehrleute waren das ganze Wochenende auf dem Baumarktgelände im Einsatz. Es dauerte insgesamt 16 Stunden, bis der Brand unter Kontrolle war. Allerdings wurden diesmal Rettungskräfte offenbar nicht zum Ziel der Attacke. In der Vergangenheit soll Russland bereits mehrfach die Strategie der sogenannten “double tap”-Angriffe angewandt haben, bei denen zwei Bomben innerhalb von mehreren Minuten hintereinander einschlagen und viele der eintreffenden Retter in den Tod reißen. Eine besonders zynische Taktik. Putins Truppen greifen Charkiw seit Monaten mit unverminderter Härte an und auch wenn der Kreml dementiert, Angriffe auf die Zivilbevölkerung durchzuführen, schlagen beinahe täglich russische Bomben in Zivilgebäuden ein. Erst vergangenen Donnerstag zerstörten Bomben eine große Druckerei in Charkiw. Auf Videos, die von ukrainischen Offiziellen geteilt wurden, waren die Reste von 50.000 verkohlten Büchern neben den zur Unkenntlichkeit verbrannten Körpern von sieben Opfern zu sehen, die der Angriff forderte. Die Menschen in der Ukraine standen angesichts der Bilder unter Schock, und ganz besonders die Einwohner von Charkiw. Das will wohl etwas heißen in einem Land, das sich seit mehr als zwei Jahren eines barbarischen Angriffskrieges mit tausenden zivilen Opfern erwehrt. Selenskyj: “Manifestation russischen Wahnsinns” Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj veröffentlichte am Sonntag ein Video, das in den Ruinen der Druckerei gedreht worden war. Er appellierte an US-Präsident Joe Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping : “Wir wollen nicht, dass die UN-Charta verbrannt wird, so wie diese Bücher hier, und ich hoffe, Sie wollen das auch nicht”, sagte er. Beide sollten deshalb zu der Friedenskonferenz kommen, die im Juni in der Schweiz stattfinden soll. Selenskyj sprach am Sonntag angesichts der schrecklichen Attacken gegen die Zivilbevölkerung vom “Terrorismus” Russlands. Während das russische Militär später behauptete, in dem Baumarkt sei ein Waffenlager versteckt gewesen, verurteilte der ukrainische Präsident den Angriff als “eine weitere Manifestation des russischen Wahnsinns”. Er bat den Westen einmal mehr um mehr Ausrüstung zum Schutz der Zivilbevölkerung. Ein Ansinnen, das etwa vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz seit Langem wortreich unterstützt wird. Allerdings tut sich die Bundesregierung nach wie vor schwer damit, der Ukraine tatsächlich die militärischen Mittel zukommen zu lassen, die sie benötigt, um sich gegen die russischen Angriffe verteidigen zu können. Auch sieht sie das Ansinnen der Ukraine kritisch, westliche Waffensysteme zu Angriffen auf russischem Boden nutzen zu dürfen. Dies hatte etwa der US-Außenminister kürzlich nicht mehr ausgeschlossen. SPD-Kanzler Scholz teilte diesem Vorhaben jedoch eine Absage. Hofreiter widerspricht Kanzler Scholz Bei einem Bürgergespräch auf dem Demokratiefest in Berlin sagte er am Sonntag auf die Frage, wann er den ukrainischen Streitkräften den Beschuss russischen Territoriums mit diesen Waffen erlauben werde: “Für die Waffenlieferungen, die wir bisher geleistet haben, haben wir klare Regeln, die mit der Ukraine vereinbart sind. Und die funktionieren. Das ist jedenfalls meine These.” Der grüne Europapolitiker Anton Hofreiter widerspricht dem Kanzler. “Es geht hier um den Schutz der ukrainischen Bevölkerung. Daher sollten wir die Ukraine nicht daran hindern, mit den gelieferten Waffen russische Kampfjets auch im russischen Luftraum abzuwehren”, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. “Das Völkerrecht erlaubt es einem angegriffenen Staat, militärische Ziele im Land des Aggressors zu attackieren.” Das Problem bei Angriffen wie jenem auf den Baumarkt in Charkiw ist, dass Russland gar nicht erst in Nähe der ukrainischen Verteidigungswaffen kommen muss, um die Attacken durchzuführen. Es genügt, wenn seine Bomber ihre tödliche Fracht hinter der Grenze abfeuern, also noch auf russischem Gebiet. Den Rest des Weges legen die Gleitbomben dann selbständig zurück. Präsident Selenskyj macht daher weiter Druck. Er forderte die westlichen Verbündeten der Ukraine nach dem Angriff auf den Baumarkt in Charkiw erneut auf, seinem Land mehr Luftabwehrsysteme zu liefern. “Wenn die Ukraine genug Luftabwehrsysteme und moderne Kampfflugzeuge hätte, wären solche russischen Angriffe unmöglich”, erklärte der Präsident. “Jeden Tag appellieren wir an die Welt: Gebt uns eine Luftabwehr, rettet Menschen.” “Die Ukraine bettelt sich ihre Ausrüstung im Grunde zusammen”, stellt auch der Militärexperte Ralph Thiele im Interview mit ntv.de fest. Die Regierung in Kiew müsse “Rücksicht nehmen auf die, die ihr Waffen geben”, meint Thiele. Angesichts der Bilder aus Charkiw fragen sich immer mehr Beobachter, wie das Land die russischen Bombardements in den kommenden Wochen und Monaten verteidigen soll. Stadt soll “unbewohnbar” gemacht werden Für Selenskyj und seine Generäle ist die Situation ein enormes Dilemma: Einerseits darf der ukrainische Präsident seine westlichen Verbündeten diplomatisch nicht verprellen, andererseits drohen Teile der Front unter dem wachsenden militärischen Druck der Russen zusammenzubrechen. Zudem scheint der Durchhaltewillen sowohl bei den Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung nicht mehr so ausgeprägt zu sein, wie noch im Frühjahr und Sommer 2022. Schon damals war Charkiw Schauplatz brutaler russischer Attacken, unter anderem wurden Kindergärten, Wohnblocks und Krankenhäuser getroffen. Doch die Stadt, die annähernd die Einwohnerzahl von München hat, hielt dem Druck der Angreifer stand und wurde zu einem Symbol des Widerstands. Im September des Jahres gelang es ukrainischen Truppen dann sogar, die Russen zurückzudrängen und aus der Region um Charkiw weitgehend zu vertreiben. Ganz anders ist die Lage in Charkiw heute: dramatisch. Mehrmals täglich heulen die Sirenen des Luftalarms, hetzen die Menschen in die Schutzräume. Immer seltener gelingt es der ukrainischen Verteidigung, die russischen Bomben- und Drohnenangriffe vollständig abzufangen. Dann schlagen die Bomben ein, wie zuletzt in der Druckerei oder nun in dem Baumarkt. Das Ziel Wladimir Putins ist es, die zweitgrößte Stadt der Ukraine zu erobern, dafür will er der Zivilbevölkerung das Leben in Charkiw unerträglich machen. Die Stadt solle “unliveable” werden, schrieb der britische “Economist” jüngst. Also unbewohnbar. Deshalb der unaufhörliche Terror aus der Luft. Viele der Einwohner Charkiws sind russisch Die Einnahme Charkiws wäre für den russischen Machthaber jedenfalls ein enormer strategischer, aber auch symbolischer Erfolg, denn die Metropole mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern ist eines der kulturellen und wirtschaftlichen Zentren der Ukraine, mit zahlreichen Universitäten, Museen, Theatern, aber auch bedeutenden Industriekomplexen und Militäranlagen. Wer Charkiw kontrolliert, der kontrolliert praktisch den gesamten Donbass, also den militärisch wichtigen Ostteil des Landes. Am Sonntagabend, als dieser Artikel geschrieben wird, kommt die Nachricht über die Agenturen, dass Russland mehrere Ortschaften in der Region Charkiw erneut bombardiert hat. Dabei starben nach bisherigen Angaben vier Menschen. Allesamt Zivilisten. Viele der Einwohner in der Region und auch in Charkiw selbst denken daher darüber nach, die Stadt zu verlassen. Dabei zählt ein erheblicher Teil von ihnen selbst zur russischstämmigen Bevölkerung in der Ukraine. Doch das interessiert Wladimir Putin offenbar wenig.