Nachwuchs-Derby: Wie HSV und St. Pauli eine Revolution im Jugendfußball planen

Nachwuchs-Derby: Wie HSV und St. Pauli eine Revolution im Jugendfußball planen

Der erste Blick auf Hamburgs Nachwuchsfußball ist rosarot. Die beiden U17-Welt- und Europameister Bilal Yalcinkaya (HSV) und Eric da Silva Moreira (FC St. Pauli) überstrahlen alles. Zwei dekorierte U-Nationalspieler, von jedem Klub einer: Um Hamburgs Talente ist es gut bestellt – könnte man meinen. Doch der zweite Blick auf die Ebenen unter die strahlende Oberfläche ist ein anderer, wie der große Nachwuchsreport der MOPO zeigt. Die Klubs sind zum Handeln gezwungen. Und sie planen eine Jugend-Revolution in Hamburg.

Die gute Nachricht: Die Probleme des deutschen Nachwuchses hat Hamburg nicht exklusiv, deutschlandweit bilden die 56 Nachwuchsleistungszentren (NLZ) unterm Strich nicht gut genug aus. Das ist das Ergebnis einer vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL) finanzierten internationalen Langzeitstudie zum Jugendfußball, an der unter anderem der ehemalige Bundesliga-Trainer Alexander Nouri mitarbeitete. Die Studie zeigt Deutschland im Vergleich mit elf weiteren europäischen Nationen. 0,95 Profispieler pro eine Million Einwohner bringt das Talente-System von DFB und DFL hervor.

Zum Vergleich: In Frankreich, Spanien oder England sind es mehr als doppelt, in Portugal und den Niederlanden sogar fast sechsmal so viele. Laut DFB-Angaben hat ein 12-jähriger NLZ-Spieler eine 0,1-prozentige Chance, Profi zu werden. Den Sprung aus der Jugend in den Bezahlfußball schaffen am Ende um die zwei Prozent.

Deutsche U-Nationalteams verpassten zuletzt WM und EM

Die Folgen der defizitären Ausbildung sind spürbar. Zum Beispiel verpassen deutsche U-Teams, wie zuletzt der neue U17-Jahrgang, die Qualifikation für Europameisterschaften. Kein Einzelfall, sondern ein wiederkehrendes Scheitern. Die DFB-Weltmeister Yalcinkaya, da Silva Moreira und Co. waren die Ausnahme.

Den beiden gebürtigen Hamburgern wird der Sprung in den bezahlten Fußball zugetraut. St. Paulis Toptalent war zuletzt regelmäßig im Kader der Profis, debütierte sogar beim Sieg in Nürnberg. Yalcinkaya trainiert bei den Profis im HSV-Dress mit, war in der Hinrunde einmal mit Robert Glatzel und Co. beim Auswärtsspiel in Kiel dabei.


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Und sonst? Wie sieht es in den anderen Jahrgängen aus? Wer sich in der Szene umhört, erfährt schnell, dass sich die Dichte an Talenten, denen man den Übergang zu den Profis zutraut, verändert hat. Pro Jahrgang und Klub fallen noch zwei bis drei Namen. Das waren vor wenigen Jahren noch fünf bis sechs, heißt es. Beim HSV sind das nach Jahrgängen sortiert Tom Sanne, Luis Seifert und Nicolas Oliveira (2004), die sich bereits im Übergangsbereich, heißt zwischen U21 und Profis, befinden; Hannes Hermann, Fabio Baldé und Lukas Bornschein (2005); Yalcinkaya und Davis Rath (2006) sowie Otto Stange und Karim Coulibaly (2007). An der Kollaustraße, wo U17 und U19 des Kiezklubs trainieren, kursieren etwas weniger Namen. Neben da Silva Moreira sind das Muhammad Dahaba (2005), Marwin Schmitz und Julien Yanda (beide 2007).

Die Hamburger Saad und Njinmah besuchten nie ein NLZ

Dass Prognosen grundsätzlich schwierig sind, darüber besteht in den Nachwuchsleistungszentren ohnehin Einigkeit. Schließlich gibt es auch immer wieder Profis wie die beiden Hamburger Elias Saad oder Justin Njinmah (Bremen), die wie Saad nie oder wie Njinmah nur kurz (U19 Kiel) in einem NLZ gespielt haben. Umso jünger ein Talent, desto schwieriger ist es, das Zukunftsbild zu malen. In den Leistungszentren spricht man daher auch von „retardiert“ und „akzeleriert“, also von Talenten, die physisch jünger oder älter als ihr biologisches Alter sind.

St. Paulis Präsident Oke Göttlich (l.) und NLZ-Leiter Benjamin Liedtke (r.) sind stolz auf ihr Toptalent Eric da Silva Moreira, der mit Deutschlands U17 Welt- und Europameister wurde.
WITTERS

St. Paulis Präsident Oke Göttlich (l.) und NLZ-Leiter Benjamin Liedtke (r.) sind stolz auf ihr Toptalent Eric da Silva Moreira, der mit Deutschlands U17 Welt- und Europameister wurde.

Die körperlichen Unterschiede sind übrigens ein ausgemachtes Hauptpro­blem der deutschen Talentförderung. Sie werden nämlich nicht adäquat berücksichtigt. Die strikte Einteilung in Geburtsjahrgänge spiegele nicht den Entwicklungsstand wider. „Die biologische Reife kann sich mit bis zu fünf Jahren Unterschied äußern“, verrät St. Paulis Nachwuchschef Benjamin Liedtke (37). Auch deshalb will Liedtke, wie auch andere Kollegen, bestehende Strukturen aufbrechen.

Einen ersten Versuch unternimmt St. Pauli zur neuen Saison. Es soll nicht mehr nach Jahrgängen, sondern nach Entwicklungsstufen eingeteilt werden. U12 und U13, U14 und U15 sowie U17 und U19 werden in drei übergreifenden Ausbildungsleveln zusammengefasst. Die U16 wird vom Spielbetrieb abgemeldet. Dazu gibt es keine festen Teamtrainer mehr, sondern einen Pool aus Coaches, die sich demokratisch organisiert um die Talente kümmern sollen. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, dass ein Trainer mehrere Spieler als Ansprechpartner betreut. Der FC St. Pauli nennt diese Rolle „Mentorentrainer“.

Einteilung nach Alter ist im Jugendfußball oft Kritikpunkt

Die Maßnahme passt zu einem neuen Zeitgeist. Auch in Alexander Nouris Studie ist die Einteilung nach Alter ein Punkt. Zu oft haben zum Beispiel Spieler der ersten Jahreshälfte Vorteile. Ihre Profichance ist tatsächlich statistisch höher.

Doch es gibt auch Zweifel daran, dass die Streichung der U16 die richtige Entscheidung ist. Als Beispiel gelten zwei Spieler, die beim HSV zu Profis wurden: Josha Vagnoman und Jonas David. Beide hatten als U16-Spieler nicht den Sprung in die U17 geschafft, brauchten das Jahr Spielpraxis in ihrer Altersstufe.

Es ist nicht die einzige Maßnahme, die der Kiezklub im Jugendbereich getroffen hat. Videoanalysen gibt es künftig ebenso erst ab der U19 wie Spezialtrainer. Mit Beratern wird im U-Bereich gar nicht mehr gesprochen. Damit wolle man den Jugendfußball entprofessionalisieren.

HSV und Loic Favé wollen anderen Weg gehen als St. Pauli

Wege, die der HSV so nicht gehen wird, obwohl „ich viele Schritte von Benni unterstütze“, wie Loïc Favé zugibt. Seit Jahresbeginn ist er sportlicher Leiter des NLZ, arbeitet unter Hochdruck an Verbesserungen. Dafür hat er nach Dienstantritt zahlreiche Analysen durchgeführt, deren Ergebnisse ab der kommenden Saison zu Neuerungen führen sollen. Die Grundlage bilden auch Beobachtungen, die Favé im Ausland machte. 20 Vereine in acht Ländern hat der Co-Trainer von Steffen Baumgart vor Ort besucht. „Da habe ich sehr große Unterschiede wahrgenommen“, sagt der 30-Jährige, unter anderem die reine Fußballspielzeit auf dem Trainingsplatz, die individuelle Förderung und die Eigenverantwortung der Spieler.

Loïc Favé ist seit Jahresbeginn Nachwuchsleiter beim HSV und Co-Trainer von Steffen Baumgart.
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Loïc Favé ist seit Jahresbeginn Nachwuchsleiter beim HSV und Co-Trainer von Steffen Baumgart.

Als erste bereits laufende Maßnahme wurde die tatsächliche Spielzeit im Training erhöht. Weitere Maßnahmen greifen ab Sommer. Nach MOPO-Informationen wird dafür der Tagesablauf der Nachwuchsspieler neu strukturiert. Die Talente gehen gemeinsam auf den Platz, arbeiten zunächst individuell an ihren fußballspezifischen Stärken und Schwächen, ehe das reguläre Teamtraining beginnt. Innerhalb der Mannschaftseinheit soll ebenfalls individueller gecoacht werden.

„Ich nenne das gerne individuelle Spielerentwicklung innerhalb der Mannschaft und des Spielkontexts“, sagt Favé. Dabei sollen Spieler künftig auch eigenverantwortlicher werden, Übungen entwickeln, sich gegenseitig analysieren, Stärken und Schwächen besprechen, „die Dinge selbst in die Hand nehmen“, wie Favé erklärt. Der gebürtige Hamburger spricht von „raus aus der Konsumhaltung“.

Ab der neuen Saison gibt’s keine Junioren-Bundesliga mehr

Favés Maßnahmen decken sich mit dem, was auch der DFB und sein neuer Nachwuchschef Hannes Wolf seit einigen Monaten propagieren. Eine Konsequenz der Nachwuchsrevolution des Verbandes hat auch direkte Auswirkung auf HSV und St. Pauli. Ab der neuen Saison gibt es keine Junioren-Bundesligen mehr, sondern eine Nachwuchsliga, aus der die 56 Leistungszentren nicht mehr absteigen können.

Amateurvereine können nur eingeschränkt an diesem Spielbetrieb teilnehmen. Dass die in der Jugendarbeit so starken Hamburger Klubs wie der ETV, der Niendorfer TSV, Vorwärts Wacker oder der USC Paloma dabei etwas auf der Strecke bleiben, wissen die beiden NLZ, weswegen die Zusammenarbeit auf anderer Ebene intensiviert werden soll. Schließlich brauchen beide die Hamburger Basis. Viele Talente kommen teilweise auch erst spät aus besagten und auch anderen Vereinen zum HSV oder zum FC St. Pauli.

Der 17,5 Millionen Euro teure HSV-Campus im Volkspark soll das Sprungbrett für mehr Toptalente sein.
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Der 17,5 Millionen Euro teure HSV-Campus im Volkspark soll das Sprungbrett für mehr Toptalente sein.

Das neue Ligen-System macht aus Sicht der Profi-Klubs dennoch Sinn. Weg von Ergebnissen, hin zu Entwicklungen. Das Ausland macht es vor. „Die Orientierungsgröße muss der Spieler sein“, fordert Liedtke. „Wir glauben nicht an Mannschaften, sondern an den individuellen Entwicklungsplan eines Spielers“, so St. Paulis Nachwuchsleiter weiter.

Trainer spielen im Nachwuchsfußball eine wichtige Rolle

Dabei ist vor allem die Rolle der Trainer ein wichtiger Faktor. Zu viele denken an die eigene Karriere statt an die Ausbildung ihrer Spieler, verfolgen ihren ganz eigenen Weg. Es ist nur logisch, dass der kurzfristige Erfolg da häufiger im Fokus steht. Auch da soll das neue Wettkampf-Modell Abhilfe schaffen.

In den neuen Nachwuchsligen werden sich HSV und St. Pauli also weiterhin begegnen. Als Rivalen sehen sich Favé und Liedtke übrigens nicht. Beide kennen sich seit etwa zehn Jahren, teilen viele ihrer Ansätze und sind sich einig. Es gehe darum, „innovativer zu denken“ (Favé) und Hamburgs Talente besser auszubilden. Je besser es der eine macht, desto mehr Ansporn sei das für den anderen. „Ich habe Abstand davon genommen, ständig auf den HSV zu gucken“, sagt Liedtke.

Recht spartanisch: ein Zimmer für einen St. Pauli-Kicker im Jugendtalentehaus des Klubs
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Recht spartanisch: ein Zimmer für einen St. Pauli-Kicker im Jugendtalentehaus des Klubs

Zu groß sind dabei auch die infrastrukturellen Unterschiede. Der HSV mit seinem 17,5 Millionen Euro teuren Campus, dem Gelände in Norderstedt und mit 119 Mitarbeitern – doppelt so vielen wie St. Pauli – ist dem Kiezklub dahingehend um Längen voraus. Der FC St. Pauli hat nur einen Kunst- und einen kleinen Naturrasenplatz am Brummerskamp sowie einen Kunstrasenplatz an der Kollaustraße auf dem Gelände der Profis. U17 und U19 absolvieren ihre Pflichtspiele auf dem Rasenplatz von Germania Schnelsen am Königskinderweg.

HSV und St. Pauli spüren auch im Nachwuchs eine Rivalität

Die Rivalität spüren beide Klubs an anderer Stelle. Für die Spieler sind die Aufeinandertreffen auch im Nachwuchsbereich echte Derbys. Dazu kommt, dass HSV und St. Pauli bei aller Einigkeit über innovative Ideen trotzdem um Hamburgs beste Talente kämpfen. Das gehört zur Wahrheit dazu. Aktuelle Profis wie Stephan Ambrosius spielten in der Jugend für beide Vereine.

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Beispiele wie Ambrosius, der im Profikader des HSV mit Anssi Suhonen und Levin Öztunali zu den drei selbst ausgebildeten Spielern mit regelmäßigen Einsätzen zählt, zeigen aber auch, dass HSV und St. Pauli Profis ausbilden können. Gerade die starken Hamburger Jahrgänge 1999, 2000 und 2001 haben viele Spieler hervorgebracht, die jetzt in den ersten beiden Ligen Geld verdienen, darunter Patric Pfeiffer (Augsburg), Josha Vagnoman (Stuttgart), Fabian Nürnberger (Darmstadt), Faride Alidou (Köln), Finn Ole Becker (Hoffenheim) und Derrick Köhn (Galatasaray). In den Jahrgängen dahinter zeichnet sich eine solch gute Quote nicht ab. Genannte Spieler sind aber auch die einzigen aus den Jahrgängen 1999 und jünger, die Erstliga-Fußball spielen. Und genau hier sieht HSV-Nachwuchschef Favé auch den Nachholbedarf: „Unser Anspruch muss sein, mehr Jungs auf das Level der Top-Fünf-Ligen in Europa zu bringen.“

Also dahin, wo viele Klubs anderer europäischer Nationen längst sind. Dass solche Prozesse viel Zeit in Anspruch nehmen, wissen beide Nachwuchsleiter. Aber eben auch, dass sie unumgänglich sind.

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