Ein „Stück Heimat“ für Flüchtlinge in Niendorf

Ein „Stück Heimat“ für Flüchtlinge in Niendorf

Angst um die Kinder. Angst um den Wert der Eigenheime. Oder sei es nur die diffuse Sorge um die bedrohte Atmosphäre im Stadtteil. Zwei geplante Obdachlosen-Unterkünfte in unmittelbarer Nähe zu Kitas und einer Grundschule haben zuletzt im beschaulichen Niendorf für Aufruhr gesorgt. „Ich bin hier schon aufgewachsen, zur Schule gegangen. Es war das erste Mal, dass ich mich für Niendorf geschämt habe“, sagt Nina Schrader. Die 41-Jährige macht sich seit Jahren stark für Menschen, die Hilfe brauchen. Sie ist Vorstand des Vereins „Wir für Niendorf“ und hat mit ihrem Team einen Ort geschaffen, den viele Flüchtlinge als „ein Stück Heimat“ bezeichnen.

Die Sonne fällt durch die gelben Vorhänge und taucht das ehemalige Klassenzimmer in sanftes Licht. An alten Schultischen sitzen Erwachsene konzentriert über Arbeitsheften. Es sind Geflüchtete, die in kleinen Gruppen Deutschunterricht von Ehrenamtlichen bekommen.

Einer von ihnen ist Danial Kazemian (35) aus dem Iran. Stolz berichtet er, dass er vor drei Tagen seine Deutschprüfung bestanden hat. „Und gestern hatte ich Geburtstag“, setzt er lächelnd nach. Seine Mitschüler und Lehrerin Daniela Schmidt (66) applaudieren. Die Rentnerin unterrichtet dreimal die Woche ehrenamtlich in der „Alten Schule Niendorf“ am Tibarg.

„Ich habe noch nie, außer in meine Familie, so viel Zeit und Herzblut in etwas gesteckt“

Die ehemalige Hauswirtschaftsschule mit knapp 800 Quadratmetern ist ein Ort des Beisammenseins, der Gemeinschaft und der Integration, den Nina Schrader mit Hilfe etlicher Engagierter geschaffen hat. Schon als die ersten Flüchtlingsunterkünfte in Niendorf entstehen sollten, kam die Anfrage der Lokalpolitik, ob die evangelische Kirchengemeinde ehrenamtlich helfen könne. Seit ihrer Konfirmation mit 14 Jahren engagiert sich Nina in der Gemeinde, mit 19 wurde sie Teil des Vorstandes. Klar wollte sie helfen. Zumal sie nach der Elternzeit in ihrem Job als Reiseverkehrskauffrau nicht voll einsteigen wollte. Anfangs waren sie zu zweit. Doch schon nach der ersten Infoveranstaltung hatte die Initiative auf einen Schlag etwa 100 ehrenamtliche Helfer.

Monatelang warteten die Engagierten auf die Geflüchteten. „Als sie kamen, waren wir bestens vorbereitet. Das war auch gut so, auf einmal hatten wir mehr als 2500 Geflüchtete im Viertel.“ Kleiderkammer, Deutschunterricht, Kinderbetreuung, Frauentreff, Strick-Café – die Initiative realisierte etliche Projekte in den Unterkünften.

2017 bot die Stadt die „Alte Schule“ als Standort an. „Wir für Niendorf“ zog ein und aus der Initiative wurde ein Verein. Heute kümmert sich ein Hauptamtlicher um die Organisation, alle anderen Mitstreiter arbeiten ehrenamtlich. Auch Nina Schrader. Die Mutter von zwei Kindern ist mittlerweile hauptberuflich im Heizungsbaubetrieb ihres Mannes tätig. Viel häufiger jedoch ist sie im Einsatz als Ansprechpartnerin und Koordinatorin für die Ehrenamtlichen. „Ich habe noch nie, außer in meine Familie, so viel Zeit und Herzblut in etwas gesteckt.“

Daniela Schmidt (66, M.) gibt dreimal die Woche ehrenamtlich Deutschunterricht in der „Alten Schule Niendorf“ am Tibarg.
Florian Quandt

Daniela Schmidt (66, M.) gibt dreimal die Woche ehrenamtlich Deutschunterricht in der „Alten Schule Niendorf“ am Tibarg.

Nina ist fest davon überzeugt, „dass jeder Mensch glücklicher ist, wenn er der Gesellschaft irgendwas zurückgibt.“ Das Helfen würde ihr selber mindestens genauso viel geben, wie den Menschen, denen sie hilft. Und so sei es auch bei den anderen Ehrenamtlichen. „Teilweise sind sie alleinstehend und auch einsam.“ Die meisten Engagierten sind zwischen 60 und 75 Jahre alt. Viele kommen zwei- bis dreimal die Woche, um Teil der Gemeinschaft zu sein. 

Sechs Tage die Woche werden in der „Alten Schule“ kostenlos Deutschunterricht, Kunst-Workshops, Schneider:innen- und Fahrradwerkstatt, Sprechstunden für Wohnungssuche und Rechtsberatung, Yoga, Capoeira, Kochen und das „Café Mittenmang“ geboten. Täglich kommen etwa 150 Menschen – größtenteils aus Afghanistan, Syrien, dem Iran, Irak, der Ukraine, Somalia und Nicaragua. „Auch wenn sie aus der Erstaufnahme ausziehen und auf einmal in Neugraben leben, kommen viele trotzdem noch“, sagt Nina Schrader.

Sie ist immer wieder bewegt davon, wie engagiert die Helfer sind. Wenn bei Starkregen Wasser ins Gebäude läuft und jeden Abend gewischt werden muss, ist es „selbstverständlich, dass Ehrenamtliche nach der Arbeit um 22 Uhr noch mal eben vorbeikommen und den Feudel schwingen.“

Anwohnerprotest gegen Obdachlosenunterkünfte am Garstedter Weg war „furchtbar“

Dass in Niendorf, ihrer Heimat, nicht jeder willkommen zu sein scheint, macht die Frau traurig. Den Anwohnerprotest gegen zwei geplante Obdachlosenunterkünfte am Garstedter Weg fand Nina „furchtbar“. Sie erinnert daran, dass es schon seit Jahren ein Winternotprogramm sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche gibt. Noch nie habe es da Probleme gegeben. „Ich finde es toll, dass es die Möglichkeit gibt, Menschen in Niendorf unterzubringen, die Hilfe brauchen.“

Allerdings versteht sie, dass die Niendorfer sich nicht abgeholt fühlten. „Die Behörde hat schlecht kommuniziert.“ Mittlerweile habe sich die Aufregung gelegt. Als nächstes soll ein Runder Tisch stattfinden, um ehrenamtliche Hilfe zu organisieren.

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Zwar wird Nina den Runden Tisch begleiten, doch nicht selber aktiv werden. Sie beschäftigen andere Baustellen. „Wir für Niendorf“ zieht im Sommer gemeinsam mit zwei anderen Vereinen in die direkt neben der „Alten Schule“ liegende „Lippertsche Villa“, die die Stadt erworben hat. Zwar muss sich die Begegnungsstätte dann auf 320 Quadratmeter verkleinern, doch Nina ist sich sicher: „Es bleibt ein ganz besonderer Ort. Für die Geflüchteten und für die Helfer.“

Steckbrief: Nina Schrader (41), Vorstand des Vereins „Wir für Niendorf“

Auto oder Fahrrad? Ich bin leidenschaftliche Autofahrerin, mag Autos und fahre auch gerne. Im Alltag mit Kindern ist es aber meist das Fahrrad, dass uns von A nach B bringt.

Bier oder Wein? Definitiv Wein! Mit Bier macht man mich nicht glücklich. Am liebsten jedoch Aperol Spritz.

Schnitzel oder Veggie-Burger? Schnitzel. Am liebsten schön dünn und knusprig.

Kind oder Haustier? Meine beiden Kinder würden Hund sagen. Ich sage Kinder.

Nordsee oder New York? Am liebsten beides. Ich liebe Reisen und habe eine besondere Schwäche für die USA. Wenn ich mich entscheiden muss, dann NYC. Aber Nordseewind und Schmuddelwetter liebe ich auch.

Kiez-Club oder Elphi? Kiez-Club mit einem kleinen Rock- oder Country-Konzert.

Heavy Metal oder Klassik? Dann Klassik, aber auch nicht wirklich gerne.

Yoga oder Fitnessstudio? Yoga, gemeinsam mit meiner Tochter frühmorgens bei Kerzenschein im Wohnzimmer.

Die Bessermacher – eine Aktion von MOPO und Haspa
MOPO

Die Bessermacher – eine Aktion von MOPO und Haspa

Möbel für das neue Café in der „Lippertschen Villa“

Gutes verdient Unterstützung. Mit der Aktion „Die Bessermacher“ wollen wir nicht nur engagierte Menschen zeigen. Die Projekte bekommen auch finanzielle Hilfe und langfristige Unterstützung. 

Der Verein „Wir für Niendorf“ wünscht sich für das neue „Café Mittenmang“, in dem sich Niendorfer und Geflüchtete treffen und das nach dem Umzug in der „Lippertschen Villa“ entstehen soll, stapelbare Tische und Stühle. Die Haspa kümmert sich um die Finanzierung mit Mitteln aus dem „Haspa-LotterieSparen“. Zudem wird die Haspa Niendorf die Patenschaft übernehmen. „Der Verein bündelt Ideen und Engagement. Damit ist er zu einem unverzichtbaren Teil von Niendorf geworden“, so Filialdirektor Jan Richert.

Wie es mit dem Projekt vorangegangen ist, erfahren Sie im Bessermacher-Recall. Die MOPO bleibt dran und berichtet!

Ein „Stück Heimat“ für Flüchtlinge in Niendorf wurde gefunden bei mopo.de