Die Geschichte jenseits von Jahreszahlen und Kriegen

Die Geschichte jenseits von Jahreszahlen und Kriegen

Der Mann mit Redingote und Zylinder fällt sofort auf. Er und andere Gestalten in historischer Kleidung passen zum Marktplatz im Kronstädter historischen Stadtzentrum mit dem alten Rathaus im Mittelpunkt und mit der Schwarzen Kirche in unmittelbaren Nachbarschaft. Aber wir sind nicht im 19. Jahrhundert und es wird auch kein historischer Film gedreht. Der Mann, der Ovidiu Savu heißt, macht kostenlos Werbung für seinen Arbeitgeber und für seine Stadt. Es macht ihm offensichtlich Spaß, in die Rolle eines wohlhabenden Kronstädters zu schlüpfen und ins Gespräch mit Passanten oder Touristen zu kommen.

Schätze warten, entdeckt zu werden

Savu, der in dieser Aufmachung in den vergangenen Jahren des Öfteren zu sehen war, ist Leiter der Abteilung Geschichte – Literatur des Mureșenilor-Gedenkhauses („Casa Mureșenilor“), das seinen Sitz gegenüber dem Geschichtsmuseum (Marktplatz 25) hat. Hätte man ihm 1994, beim Abschluss seines Hochschulstudiums in Kulturanthropologie – Geschichte in Hermannstadt, gesagt, er werde in einem Museum, vor allem im Bereich moderne und zeitgenössische Geschichte tätig sein, so hätte er das nicht geglaubt. Denn Archäologie war sein Traumberuf. Auch heute erinnert er sich gern an die Zeit, in der er als Schüler und später als Student an archäologischen Grabungen mitbeteiligt war. Vor allem die Grabungen bei Tipia Ormenișului in der Nähe von Racoș beim Alt-Durchbruch hatten es ihm angetan. Im Zelt übernachten, und das nicht ein-zwei Tage sondern Wochen, früh aufstehen und sich im kalten Wasser des Bachs zu waschen, fern von Stadt oder Dorf, mit einem täglichen steilen Anmarsch hinauf zum Berg zur Grabstelle einer dakischen Siedlung und anschließend sechs bis acht Stunden harter Arbeit – das habe ihn, damals ein schüchterner und zurückgezogener Junge, gewandelt. Es war anstrengend, buchstäblich schweißtreibend, in der prallen Sonne mit dem Spaten die obere Erdschicht ausheben und dann mit dem Spachtel sorgfältig die Erde zu entfernen, damit eventuelle archäologische Spuren nicht beschädigt werden. „Man musste richtig schuften, aber es war außerordentlich schön“, erinnert sich Savu an seine ersten Grabungen. Vor allem wenn er etwas, z.B. Teile einer dakischen bronzenen Armbinde, ans Tageslicht bringen konnte. Damals, unter der Leitung des bekannten Kronstädter Archäologen Dr. Florea Costea, wünschte er sich, nicht nur in seiner Freizeit den Geheimnissen, die in der Erde verborgen sind, nachzuspüren. Im Museum sitzen, in den Archiven herumstöbern, sein berufliches Dasein als „Bücherwurm“ oder „Leseratte“ (der rumänische Begriff lautet wortwörtlich übersetzt „Bibliotheksmaus“) zu verbringen, das bedeutete für ihn eigentlich das Gegenteil des Forschens unter  freiem Himmel mit allen damit verbundenen Überraschungen. Solche werden immer wieder verzeichnet und sie sind nicht ausschließlich den Fachleuten vorbehalten, weiß Ovidiu Savu und nennt ein Beispiel: bei Ackerarbeiten ist nicht fern von Kronstadt und vom Ufer des Altes hinter dem Pflug eines Traktors ein Schwert aus dem Mittelalter aus der Erde aufgetaucht. Den Standort will er nicht näher angeben, denn Hobby-Archäologen, die sich mit Metalldetektoren auf Schatzsuche begeben, handeln seiner Meinung nach in einer gesetzlichen Grauzone. Vor 25 Jahren wurden landesweit offiziell über 11.000 archäologische Grabungsstätten verzeichnet. Ihre Zahl hat sich inzwischen mehr als verdoppelt. Nicht zuletzt, weil das Gesetz vorsieht, dass bei größeren Erdarbeiten eine archäologische Voruntersuchung vorgenommen wird. Falls es notwendig ist, wird die archäologisch wertvolle Stelle abgesichert und von den Bauarbeiten umgangen. Der Historiker, der so gerne dieser Leidenschaft nachgegangen wäre, muss es gut wissen denn seine Ehefrau, Dr. Lucica Olga Savu, ist Archäologin. Wie viele potentielle Grabungsstätten gibt es wohl in diesem Land, in den Ebenen, in den Bergen oder im Gebirge, an einst besiedelten Orten, die vollständig in Vergessenheit geraten sind, fragt sich Ovidiu.

Kronstadt kann sehr vieles anbieten

Nach einigen Jahren, in denen es keine freie Stellen im Bereich Archäologie gab und in denen er als Geschichtslehrer an mehreren Schulen unterrichtete, wechselte Ovidiu Savu vor gut zwei Jahrzehnten zur „Casa Mureșenilor“, der damals Sanda Maria Buta als Leiterin vorstand. Zufall oder auch nicht: in Blasendorf/Blaj, wo Ovidius Großeltern lebten und wo er einen Teil seiner Kindheit und oft seine Schulferien verbracht hatte, gibt es die Andrei-Mureșianu-Straße. Und just in dieser Straße wohnten die Großeltern. Jahrzehnte später stößt der junge Museograph wieder auf den Namen Andrei Mureșianu. Denn der Dichter der rumänischen Nationalhymne „Desteaptăte române“ ist prominentes Mitglied der Mureșianu-Großfamilie, deren Wohnhaus seit 1998 als vom Kreisrat Kronstadt finanziell getragenes selbstständiges Gedenkhaus besteht. Selbst wenn Andrei Mureșianu nicht da gelebt hat (er wohnte in der Burggasse), so ist sein Name nicht von diesem Museum zu trennen. Es führt auch den Übernamen „Museum der Nationalhymne“. Flagge, Wappen und Hymne sind identitätsstiftende Symbole einer Nation, erinnert Savu einleitend als Antwort auf die Frage, ob diese Symbolik nicht ideologisch überfrachtet werden könnte. Es handle sich um ein Museums-Rebranding, eine Umbenennung, die aber keinesfalls die Rolle der Sachsen, wie auch der Ungarn oder anderer Minderheiten in der Geschichte Kronstadts in Frage stelle. Die Sachsen sind Kronstadts Stadtgründer, selbst wenn in dieser Gegend vor ihrer Ansiedlung auch Spuren der einheimischen Bevölkerung nachweisbar sind, unterstreicht Savu, der zwar kein Deutsch beherrscht aber in Sachen Mittelalter und Siebenbürger Sachsen sehr gut bewandert ist. Zu den Persönlichkeiten, die ihn als Schüler, Student und Historiker geprägt haben, gehören bekannte Namen wie der Kronstädter Geschichtsfachlehrer Ioan Halmaghi, seine Professoren an der Hermannstädter Universität Thomas Nägler, Zeno Pinter, Paul Niedermaier, Sabin Luca und der Kronstädter Historiker und Archivar Gernot Nussbächer, welcher nach seiner Verrentung Mitarbeiter bei Casa Mureșenilor war und dessen Wirken da hoch geschätzt wurde.

Kronstadt habe so vieles zu bieten, ist Savu überzeugt. Das habe er auch von Kollegen aus Klausenburg und Jassy zu hören bekommen, die der Stadt am Fuße der Zinne ein besonderes Flair bezeugen. Die Frage stellt sich, wie soll so etwas entsprechend zur Geltung gebracht und vermittelt werden.

„Casa Mureșenilor“ will dazu ihren Beitrag bringen und das nicht nur über die ständige Ausstellung und die zahlreichen Sonderausstellungen. Außer an Touristen wendet sich das Museum auch an die Kronstädter und, stärker als bei anderen Museen, an die Kinder. Bereits zu Beginn seiner Laufbahn an diesem Museum hat Ovidiu Savu der museumspädagogischen Seite, vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit, eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Als Vater einer Tochter und eines Sohnes weiß er sehr gut, wie wichtig es ist, den Kindern Zeit zu schenken und das nicht nur, wenn sie noch sehr klein sind. Familienfreundliche Aktivitäten sind bei diesem Museum keine Ausnahme. 

Geschichte als trockene Aufzählung von Daten und Fakten, von Jahreszahlen und Namen von Helden und Herrschern, von Kriegsschauplätzen und Friedensverträgen sei eher abschreckend als anziehend. Wie haben unsere Vorfahren gelebt, wie sah ihr Alltag aus, nach welchen Werten richteten sie sich, wie kleideten sie sich, was gab es zu essen, was freute sie und was bereitete ihnen Sorgen – die Geschichte kann darauf antworten. Sie kann „schmackhaft“ vor allem Kindern angeboten werden, und wenn sie „anbeißen“, hat man sie dafür gewonnen, scherzt Savu. Das sei eine wichtige Aufgabe und dementsprechend groß sei die Genugtuung, dass Kinder, die bei ihrem ersten Museumsbesuch an der Hand von Großeltern oder Eltern eher verstört und langweilt waren, später nicht nur Museumsliebhaber wurden sondern ihrerseits den eigenen Kindern den Zugang zur Geschichte und zum Museum vorlebten.

Ovidiu Savu leitete und leitet weiterhin mehrere Programme, die für Kinder verschiedener Altersstufen in den Räumen des Museums aber auch außerhalb gedacht sind. Angesprochen und dafür gewonnen wurden im Laufe der Jahre bekannte Namen, von denen da nur einige erwähnt werden sollen: die Soziologin Angela Dobrescu, die Musikpädagogin Terezia Cristian, die Keramikkünstlerin aus Siebendörfer/Săcele Agnes Ferencz, die Kunsthandwerkerin Gabriela Bularca, der Arzt Ioan Toma. Die Museumsmitarbeiterinnen sind immer wieder mit dabei: Nachdem der derzeitige Museumsdirektor Dr. Valer Rus den Anfang mit Erklärungen zu Kleidungsstücken des 19. Jahrhunderts gemacht hatte, übernahmen Marinela Barna und Bianca Micu diese Aufgabe. Lorena Domocoș erklärte kindgerecht, wie es bei der Restaurierung von Urkunden und anderen alten Akten vor sich geht. Cristina Seitz übte die ersten Schritte eines in Kronstadt Ende des 19. Jahrhunderts beliebten Gesellschaftstanzes ein, Roxana Cornea vom Ștefan-Baciu-Museum (eine Abteilung von Casa Mureșenilor) ist vor allem im Bereich Literatur gefragt.

Fächerübergreifend, kreativ und interaktiv, ohne mit Leistung und Bewertung verbundenen Druck ermöglichen solche museumspädagogischen Aktivitäten ein anderes, leichteres und angenehmeres Aneignen von Kenntnissen und Fertigkeiten als in den Unterrichtsstunden in der Schule. Für Museums-Abteilungsleiter Savu ist das zu einem ersprießlichen Tätigkeitsfeld geworden … selbst wenn er nun eigene archäologische Funde vermissen muss. 

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