Eine Frage der Erinnerung

Eine Frage der Erinnerung

Die deutsche Minderheit in Rumänien ist als ethnische auch eine nationale Minderheit. Es existiert ein konationaler Bezugsstaat: die Bundesrepublik Deutschland. Sie leistet über einen moralischen diplomatischen Beistand deutlich hinaus auch Unterstützung für den Unterricht in Deutsch als Muttersprache sowie für einschlägige Kulturinstitutionen. Das Verhältnis der deutschen Minderheit in Rumänien zu Deutschland und insbesondere auch zur dortigen Mehrheitsbevölkerung ist von grundlegender Bedeutung. Nun droht die Erinnerungskultur, auf der jenes Verhältnis basiert, in Vergessenheit zu geraten. Verkommt staatlich gelenkte Erinnerungskultur zu einer bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln? 

Deutschlands Bundesregierung hat ihrem Koalitionsvertrag folgend vor, die sog. Gedenkstättenkonzeption des Bundes zu aktualisieren. Nun hat die dafür zuständige Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, kürzlich ihren Entwurf des „Rahmenkonzeptes Erinnerungskultur“ für den gesellschaftlichen Diskurs online gestellt, um ihn wenige Stunden später wieder zu entfernen. Was steht darin?

Prinzip der Selbsterkenntnis bei Gedenkstätten

In Rumänien ist beispielsweise die Gedenkstätte für Opfer des Kommunismus und des Widerstandes (umgangssprachlich: „Memorialul de la Sighet“) eine zivile Einrichtung mit Projektförderungen diverser Institutionen. In Deutschland hingegen werden solch bedeutende Gedenkstätten und Erinnerungsorte mit signifikanten öffentlichen Mitteln gefördert, was bis dato in der Gedenkstättenkonzeption geregelt wird. Vorrang hat dabei die Stärkung des Verständnisses der eigenen Geschichte als Teil der Identitätsbildung der Nation. Dazu gehören die Lehren, welche man aus der Herrschaft des Nationalsozialismus gezogen hat und seit 1999 auch Lehren aus der kommunistischen Diktatur in der ehemaligen DDR. Die Gedenkstätten haben somit einen hervorgehobenen Bildungs- und  Aufklärungsauftrag der Gesellschaft gegenüber. Maria Bering stellte als Gruppenleiterin für Geschichte/Erinnerung der BKM  2018 fest, dass „es nicht um die Vermittlung eines einheitlichen, staatlich verordneten Geschichtsbildes, sondern um die Unterstützung eigenverantwortlicher Reflexion geht.“ Bleibt nun der damalige Grundsatz bestehen?

Identitätsstiftend und Mahnung

Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass die Gedenkstättenkonzeption in ihrer letzten Fassung von 2008 überarbeitet wird um in einer veränderten Welt weitere identitätsstiftende, wie auch mahnende Elemente der Erinnerungskultur zu berücksichtigen. Als Folge der faschistischen und kommunistischen Unrechtsregime wurde inzwi-schen, als ein „Zentrum gegen Vertreibung“, die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin eingerichtet – nicht auf Betreiben der Regierung, sondern intrinsisch motiviert. Die Stiftung wird ihrem Bildungs- und Aufklärungsauftrag bereits seit mehreren Jahren gerecht. Neben der Erinnerung an die Vertreibung, Deportation und den sog. „Freikauf“ der Deutschen aus dem östlichen Europa  erhalten dort gerade jüngere Generationen Einblick in die jüngste Vergangenheit jenen Teils der deutschen Bevölkerung, der zur Wahrung seiner deutschen Identität nach Deutschland floh, bzw. aussiedeln musste. Ein solches Verständnis ist der Kitt der Gesellschaft. Empathie für das geschehene Unrecht und Leid von Mitbürgern trägt klar dazu bei, dass es in Zukunft vermieden wird und die Kultur z.B. der auseinandergerissenen Deutschen in und aus Rumänien weiterhin gefördert wird. Wurde jenem Erinnerungsort nun im Entwurf des „Rahmenkonzeptes  Erinnerungskultur“ Rechnung getragen?

Vom Gedenkstättenkonzept zum Rahmenkonzept 

Der Hermannstädter Lyriker Franz Hodjak verarbeitete seine Aussiedlung nach Deutschland 1993 im Band „Landverlust“ und den damit verbundenen Zwiespalt: „bis auf weiteres / gehn wir auseinander, der kopf / in eine richtung, die füße / in die andere.“ Die Erinnerung an jenen geschichtsträchtigen Einschnitt bei den Deutschen aus Rumänien wie auch für andere Deutsche mit ähnlichem Schicksal sitzt tief. Es besteht das Bedürfnis, wie auch der Bedarf, jene Erlebnisse mit den Mitbürgern in Deutschland zu teilen und Teil der neuen Heimat zu sein. Mit entsprechender Erinnerungskultur werden Gefühl und Vernunft zu einem Konsens geführt. Erinnerung war schon immer auch Grundlage für Zukunft.

Hierfür hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag einen Schwerpunkt definiert: Erinnerungskultur wird als Einsatz für die Demokratie und Weg in eine gemeinsame Zukunft begriffen. Dafür werden aus Gedenkstätten der bisherigen beiden Bereiche „NS-Terrorherrschaft“ und „Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur“ nunmehr fünf Komplexe für historische Verantwortung und Förderstruktur definiert: Nationalsozialismus, Deutsche Teilung / Deutsche Einheit, Kolonialismus, Erinnerungskultur und Einwanderungsgesellschaft, Kultur und Demokratie. Überspitzt gefragt: Ist alles dabei zum „gemeinsamen Gedenken“ in gesellschaftlicher Traumatherapie? 

Einwanderungsgesellschaft und Erinnerungskultur

Nicht zuletzt die „Einwanderungsgesellschaft verlange eine moderne Erinnerungskultur, die auch Wege zur Integration weisen könne“, schrieb Staatssekretärin Claudia  Roth unlängst im Berliner „Tagesspiegel“. Sollen aus der Erinnerung vergangenen Leids anatolischer „Gastarbeiter“ nun Integrationsmöglichkeiten für deren Nachfolgegeneration abgeleitet werden? Klingt nach viel Theorie und wenig Gefühl. Klingt nach viel Vorgabe und wenig Selbstentwicklung im Erinnerungsprozess. Klingt, als ob langjährige Prinzipien verworfen werden.

Konkretes liegt (noch) nicht vor. Es heißt lediglich, den Menschen mit Migrationsgeschichte gebühre ein eigener Platz in der deutschen Erinnerungskultur. Auch im Bereich „Kolonialismus“ wird nur eine Absicht formuliert: es soll ein Lern- und Erinnerungsort entstehen. Dafür lässt man vorerst von einer Expertenkommission ein Gutachten entwickeln. Neben der geschichtsträchtigen Paulskirche in Frankfurt soll ein „Haus der Demokratie“ entstehen, um der Opposition und dem Widerstand in der DDR gerecht zu werden. Viele neue Erinnerungsstätten sind angedacht. Aber mit welcher inhaltlichen Ausrichtung? Da fällt das Berliner Humboldtforum mit nachempfundener Fassade des früheren Schlosses ein: Jene Kultureinrichtung wurde geplant, noch bevor die Nutzung der Räumlichkeiten klar war – Hauptsache die Fassade steht.

Es wird beabsichtigt, im gesellschaftlichen Diskurs mit Vertreterverbänden die Vorhaben bis Jahresmitte zu konkretisieren. Doch der Entwurf des Rahmenkonzeptes Erinnerungskultur ist bereits seit einem Monat nicht mehr on-line und kann demnach (noch) nicht debattiert werden. 

Klar ist jetzt bereits: Es besteht längst gesellschaftlicher Konsens, dass eine Erinnerungskultur für die zahlreichen Gastarbeiterfamilien eminent wichtig ist. Allerdings weniger im Sinne der Integration der hauptsächlich türkischsprachigen Minderheit, sondern deren Akzeptanz durch die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Aus deren Mitte führt Ausländerfeindlichkeit zu xenophoben Morden. In Hanau wurde vor vier Jahren ein Rumäne (Viorel Pâun) zum Opfer, der helfen wollte, ohne die Notrufzentrale der Polizei erreichen zu können. Ein wesentlicher Beitrag zur Aufarbeitung jener Ereignisse kam aus der Zivilgesellschaft, die auch dafür die Gedenkstätte eingerichtet hat.

Die Deutschen aus Rumänien als Teil der Einwanderungsgesellschaft?

Der Entwurf des Rahmenkonzeptes Erinnerungskultur sieht mehrere neu zu entwickelnde Erinnerungsstätten vor. Das bestehende Zentrum der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin wird dem Bereich „Erinnerungskultur und Einwanderungsgesellschaft“ zugeordnet. Dabei werden dort Folgen der NS-Herrschaft dokumentiert. Es ist ein Ort kollektiver Erinnerungskultur von Millionen von Vertriebenen/Binnenflüchtlingen und (Spät-)Aussiedlern. Wenn das Demokratieverständnis gefördert werden soll, dann ist es wichtig Minderheitenrechte in den Vordergrund zu rücken. Die Mahnung dabei: Verletzt heute eine Regierung Minderheitenrechte, verletzt sie morgen die Rechte der Mehrheitsbevölkerung. Das war im Nazi-Deutschland bei Sinti und Roma sowie Juden der Fall, das war ebenso im rumänischen Kommunismus u.a. bei Deutschen der Fall – solche Risiken bestehen in den Ursprungsländern weiterhin.

Der Schwerpunkt soll nun – oder schon wieder? – auf Versöhnung gelegt werden. Das Stereotyp von drohendem Revanchismus ist allerdings schon lange aufgebraucht und ridikül. In fast allen entsprechenden Ländern leben EU-Bürger mit gleichen Rechten zumeist in Eintracht miteinander. Den selbst gesetzten Zielen der Demokratiestärkung folgend sollte jedoch im neuen Rahmenkonzept Erinnerungskultur der Ursachen und des Leids der vielen Deutschen aus dem östlichen Europa gedacht und die Bedeutung von Minderheitenrechten hervorgehoben werden. Für deren berechtigte Förderung von Kultur sowie Unterricht in deutscher Muttersprache sollte gesellschaftliches Verständnis und Akzeptanz langfristig gesichert werden. Erinnerungskultur ist die Grundlage dafür.
Deutsche aus dem östlichen Europa im Kontext von Mobilität und Migration als Einwanderer einzuordnen, lässt keine/falsche Rückschlüsse für die Schärfung des Demokratieprozesses zu und wird niemandem gerecht. Der Gedanke, alle Menschen und somit alle Opfer sind gleich, ist bei der Erinnerungskultur völlig deplatziert, da es hierbei um die ursächlichen Ereignisse geht und die Lehren, die daraus abzuleiten wären. Niemand relativiert den Tod von Krisenflüchtlingen im Mittelmeer gegenüber jenen erfrorener Kriegsflüchtlinge aus Ostpreußen. Somit geht es nicht darum, einer vermeintlichen Schicksalsgemeinschaft von Flüchtlingen pauschal zu gedenken, sondern mit unterschiedlichen empathischen Ansätzen der völlig unterschiedlichen Fluchtursachen, um diesen zukünftig gezielt besser begegnen zu können! 

Handlungsbedarf

Ein Paradigmenwechsel in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes macht durchaus Sinn. Zu der bisherigen identitätsstiftenden Aufklärung vergangenen Unrechts soll eine Schwerpunktverlagerung auf zukunftsweisende Lehren daraus erfolgen. Daher bedarf es sehr wohl einer Aufgliederung von 2 auf 5 oder besser 6 Komplexe. Mutmachende positive Ereignisse, wie die erste Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, der ein neues Haus der Demokratie an die Seite gestellt sein soll, bringen notwendigerweise immer wieder aufs Neue in Erinnerung, dass politische Teilhabe keine Selbstverständlichkeit ist und durch ziviles Engagement verbessert werden kann. 

Ein Kurswechsel ist angebracht. Der neue Kurs bedarf einer konsequent klaren Zielführung, die über eine Legislaturperiode hinaus von Bestand ist. Erinnerungskultur ist kein politischer Gegenentwurf zum Konstrukt einer Leitkultur. Was benötigt wird, sind Erinnerungsstätten, die eine profunde Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und nicht der Gegenwart oder gar zukünftigen Tendenzen ermöglichen. Für Letzteres sind politische Stiftungen und einschlägige Kultureinrichtungen geeigneter. Ermöglicht werden muss, die Welt aus der Perspektive eines anderen zu betrachten, und sei dieser andere der eigene Großvater oder jener des Arbeitskollegen, des Nachbarn, anderer Eltern aus der Schule der Kinder. Deren Lebenserfahrungen zu kennen, ermöglicht den eigenen Standpunkt zu hinterfragen, ermöglicht Toleranz für Menschen mit einem anderen Lebensbild, anderen Meinungen, anderer politischer Orientierung. Progressive Politik und konservative Traditionen haben beide ihre Daseinsberechtigung. Neues zu fördern kann nicht zu Lasten des Bestandes gehen, soweit Demokratie der Schwerpunkt sein soll.

Identitätsstiftende Erinnerungskultur in einer zunehmenden Einwanderungsgesellschaft erhöht Integrationsbereitschaft und erleichtert Integration. Bei der neu angedachten Erinnerungskultur wird vergessen, wesentliche Aspekte bezüglich der Deutschen aus Rumänien und deren Schicksalsgenossen anderer Länder zu berücksichtigen. Es wird außer Acht gelassen, dass der Prozess andauert: bei deutschen Spätaussiedlern aus der Ukraine. Es gilt gewahrte Minderheitenrechte als Gradmesser für das staatliche Demokratieverständnis zur Mehrheitsbevölkerung hervorzuheben – pars pro toto. 

Nun sind Akteure aus Politik und Gesellschaft gefordert, im Diskurs den Gestaltungsprozess der Erinnerungskultur nicht nur inhaltlich zu konkretisieren, sondern auch die Struktur zu präzisieren.
 

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