Abschied von „Brâncuși“

Abschied von „Brâncuși“

Bis fast zur Gebäudeecke an der Kreuzung der Straßen Palanca und Augustin Pacha reicht am Sonntag, den 28. Januar, die Menschenschlange, die sich vor dem Eingang ins Nationale Kunstmuseum am Domplatz/Piața Unirii in Temeswar/Timișoara gebildet hat. Es ist der allerletzte Tag, an dem die Ausstellung „Constantin Brâncuși: Rumänische Quellen und universelle Perspektiven” noch besichtigt werden kann. Viele der Menschen, die hier Schlange stehen, haben die Ausstellung noch gar nicht gesehen.

Und das, obwohl ihnen dafür glatte vier Monate Zeit zur Verfügung gestanden haben mit zwei kostenlosen Besuchermarathons und anderen Gelegenheiten, die Ausstellung zu besichtigen – kostenfrei oder zu Eintrittspreisen zwischen 80 und 100 Lei. Man muss es aber auch sagen: Einige haben sich die Ausstellung mehrmals angeschaut und nutzen den letzten Tag, um sich von „Brâncuși” zu verabschieden. Sie gehören zu den mehr als 130.000 Besuchern, die im Schnitt etwa eine halbe Stunde genutzt haben, um den berühmtesten rumänischen Bildhauer aller Zeiten hautnah zu erleben. Das Werk des aus Hobi]a im Kreis Gorj stammenden Künstlers, das unter strenger Aufsicht im nach europäischen Standards ausgestatteten Kunstmuseum zur Schau gestellt ist, sorgt für Begeisterung bei Kunstkennern, doch auch das Auge des Uneingeweihten erfreut sich an den Werken. Wie Museumsleiter Filip Petcu bei der Abschlussveranstaltung meint: „Wer entspannt in die Ausstellung geht, wird emotionsgeladen die Ausstellung verlassen, und umgekehrt”.

Auch der Geschäftsmann Ovidiu [andor, Vorsitzender der Art-Encounters-Stiftung und kommissarischer Leiter der Brâncu{i-Ausstellung, betont: „Die Ausstellung ist jedermanns ganz persönliche Reise, die dich dem Künstler näher bringt“. Ovidiu Șandor war es, der 2018 bei einem Kaffee mit Kunsthistorikerin Doina Lemny auf einer Veranstaltung in Brüssel die Idee zur Brâncu{i-Ausstellung hatte. Dass die Schnaps(Kaffee-)Idee nur paar Jahre später Wirklichkeit werden sollte, hatte keiner so richtig geglaubt.

Während die Menschen draußen Schlange stehen, um die letzten Tickets zu erwerben, ist im Barocksaal der feierliche Abschluss der Ausstellung anberaumt. Der Gouverneur der Nationalbank Rumäniens (BNR), Mugur Isărescu, stellt die Gedenkmünze aus Silber vor, die Brâncuși gewidmet ist. Organisatoren, (Medien-)Partner und Sponsoren der Ausstellung, aber auch zahlreiche Journalisten sind gekommen, um das Highlight des europäischen Kulturhauptstadtjahres 2023 in Temeswar Revue passieren zu lassen.

Der Kreisratsvorsitzende Alin Nica, der die Geldgeber-Institution des Kunstmuseums vertritt, ergreift das Wort: „Brâncuși ist etwas Außergewöhnliches gelungen: Er hat die Menschen dazu bewogen, für Kultur Schlange zu stehen, er hat die Faser unserer Festung verändert und gezeigt, dass die Kunst dich zu dir selbst finden lassen kann, egal, welchen kulturellen Hintergrund du mitbringst.“ Die Ausstellung sei definitiv das bedeutendste rumänische Event des Jahres 2023 gewesen, betont Nica. Das Feedback nach der Ausstellung fällt äußerst positiv aus: Die mehr als 130.000 Besucher insgesamt, davon über 26.000 Schüler und Studierende, etwa 10.500 Rentner, 900 Schülerwerkstätten, rund 1600 Besucher an jedem ersten Mittwoch im Monat (wenn die Ausstellung kostenlos zu besichtigen war), etwa 5000 Besucher während den beiden Marathonveranstaltungen, in denen die Expo kostenfrei und lange nach den gewohnten Öffnungszeiten besuchbar war, bezeugen das.

„Heute wird ein Kapitel geschlossen, ein Abenteuer, das ich auf Initiative von Ovidiu Șandor auf mich genommen habe. Ich bin traurig, aber auch hoffnungsvoll, dass damit ein neuer Weg für weitere Prestige-Ausstellungen geöffnet wird“, sagt Kuratorin Doina Lemny vom Centre Pompidou in Paris, das mehrere Werke für die Ausstellung als Leihgaben zur Verfügung gestellt hat. Sie selbst habe gespürt, dass sie Brâncu{i in einigen schweren Lebensmomenten im vergangenen Jahr gerettet habe, gesteht sie öffentlich. „Ich habe Menschen gesehen, die Tränen in ihren Augen hatten – die Ausstellung hat sie bis zu Tränen gerührt“, erzählt sie. Doch das Kunstmuseum in Temeswar lasse sich auch weiterhin sehen, denn die Ausstellungen, die es beherbergt, seien herausragend, sagt Doina Lemny und gibt als Beispiel die Retrospektivausstellung von Suzana Fântânariu, „Katharsis am Rande einer Welt“, an. Im Barocksaal hängen, an einem warm-gelben Hintergrund befestigt, immer noch die Kunstwerke der Ausstellung „Paralellen. Temeswar/Neusatz“, die das gemeinsame Kunsterbe der beiden Partner- und europäischen Kulturhaupstädte Temeswar und Neusatz/Novi Sad in Serbien in den Vordergrund rücken lässt.

Museumsleiter Filip Petcu bedankt sich bei Sponsoren und Partnern, aber in erster Linie bei seinen Kolleginnen und Kollegen, deren Bemühungen in großem Maße zum guten Gelingen der Brâncu{i-Ausstellung beigetragen haben. „Brâncuși war das Bindeglied, das mich und meine Kollegen zusammengebracht hat“, sagt er. Der Absolvent der Nikolaus-Lenau-Schule ist am heutigen Tag sichtbar gerührt. Der Erfolg der Ausstellung scheint auch für den Direktor überwältigend gewesen zu sein. Filip Petcu verrät allerdings auch, dass Brâncu{is Werk „Ecorșeul“ (die Muskelfigur), der „Enthäutete“, wie der Künstler selbst das Werk genannt hat, wohl bis Jahresende im Temeswarer Kunstmuseum ausgestellt bleiben wird – man führe diesbezüglich Gespräche mit dem Museum in Craiova, in dessen Besitz sich das Werk befindet. „Ecor{eul“ hat, wie die meisten seiner Werke, eine spannende Geschichte: Inspiriert von der Hermes-Statue, die im Kapitolinischen Museum in Rom ausgestellt war, schuf Brâncu{i fast zwei Jahre lang, zwischen 1900 und 1902, unter der Leitung von Dr. Dimitrie Gerota, die Statue aus farbigem Gips, die die Muskulatur und die Bänder eines menschlichen Körpers in Lebensgröße anatomisch genau darstellt. Die Skulptur eröffnet die Ausstellung in Temeswar.

Ein letzter Rundgang durch die Brâncu{i-Ausstellung. Die Schlange vor dem Museum hat sich aufgelöst, alle Karten sind vergriffen. Der Abschied fällt manch einem Besucher nicht leicht. Der Blick weilt länger auf Werken, die einem besonders gefallen haben. Für die einen ist „Piatră de hotar“ ihr Herzenswerk, andere fühlen sich von „Mademoiselle Pogany“ angezogen, während manche das Werk „M²iastra“ oder das zu seiner Zeit in den USA kontroverse Kunstwerk „Pasărea în zbor“ bewundern. Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel erscheint, sind fast alle Kunstwerke und Dokumente schon an ihre angestammten Orte, die in ganz Europa verstreut liegen, zurückgekehrt. Zurück bleibt ein modern ausgestattetes Museum mit einem performanten Sicherheits- und Klimasystem, das ab sofort Kunstausstellungen der Superlative beherbergen kann. Werke des Malers des Frühbarocks Caravaggio könnten schon im Herbst dieses Jahres im Temeswarer Kunstmuseum zu sehen sein. Doch bis dahin bereitet die Museumsleitung auch andere Überraschungen vor, darunter eine Ausstellung der deutschen Künstlerin Paula Modersohn-Becker, die ab März zu sehen sein wird.

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