Drohungen, Dildos und Diamanten: Der krasse Alltag im Kiez-Leihhaus

Drohungen, Dildos und Diamanten: Der krasse Alltag im Kiez-Leihhaus

Ein stürmischer, nasskalter Tag im Herbst. Im Unterhemd stürmt ein Mann herein. Er schwitzt, der Kopf hochrot. Schwer atmend legt er eine Uhr auf den Tresen. „Alles in Ordnung bei ihnen?“, erkundigt sich Nadja. Der Mann genervt: „Mach mal schnell hier. Ich bin gerade bei der Susi gegenüber. Die ist so geil. Für 50 Euro mehr macht die alles.“ Nadja lacht. Eine Situation, die sie nie vergessen wird. Obwohl sie schon so einiges gesehen hat in der Filiale an der Reeperbahn. Die 34-Jährige, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, ist Pfandleiherin bei „Grüne’s Leihhäuser“. Sie erlebt jeden Tag Menschen in Not. Manche mit kleineren Sorgen, andere, die ihren wertvollsten Besitz verpfänden müssen.

Nadja erinnert sich noch genau an das erste Mal auf dem Kiez. Staunend stand sie als kleines Mädchen auf dem Weg zu einer Theatervorführung vor der Fensterfront eines Sexshops und betrachtete interessiert die seltsame Auslage. Was das sei, wollte sie von ihrer Mama wissen. „Na, das sieht man doch. Mixstäbe und Rührgeräte“, sagte ihre Mutter ganz selbstverständlich. Später als Jugendliche kam sie ab und an zum Feiern nach St. Pauli. Ansonsten hatte Nadja, ein Kind vom Dorf, nichts mit der bunten Welt des Kiezes zu tun.

Die Pfandleiherin im Lager: Designertaschen, Jacken und Schuhe reihen sich aneinander.
Marius Röer

Die Pfandleiherin im Lager: Designertaschen, Jacken und Schuhe reihen sich aneinander.

Das änderte sich schlagartig. An ihrem zweiten Arbeitstag, sie war gerade 20, klingelte es unten an der Tür des unscheinbaren Gebäudes zwischen Cocktailbar und „Merlin“-Boutique an der Reeperbahn. Sie drückte den Türöffner. Kurz darauf stand ein Mann vor ihr im ersten Stock des gelb verklinkerten Hauses. „Nehmen Sie auch Heimatfilme?“ Nadja saß verunsichert hinter der Panzerglasscheibe. „Was meinen Sie damit? Sowas wie Sissi?“ Der Mann druckste herum. „Nee, so andere Heimatfilme.“ Nadja immer noch ahnungslos; „Ich weiß jetzt gar nicht, was sie meinen.“ Der Mann öffnete seine Plastiktüte und schob ihr einen Stapel Pornos rüber. Nadja schwer beschämt. Alleine der Anblick der Bilder habe ihr gereicht. Sie fragte die Kollegin, ob sie die Filme annehmen dürfe. „Ja, klar. Aber zieh dir Handschuhe an. Du musst die CDs prüfen.“ Nadja fassungslos. Sie sollte die Sexfilme anfassen? Wiederwillig stülpte sie sich Handschuhe über, inspizierte die Pornos und gab dem Mann 20 Euro.

Mann wollte eine ganz besondere Pamela Anderson verpfänden

Heute bringen sie Pornos nicht mehr aus der Ruhe. Auch Dildos nicht. Die nimmt sie allerdings nur mit Rechnung und originalverpackt an – wie auch anderes Sexspielzeug. Einmal wollte ein Mann schweren Herzens seine Frau verpfänden. Pamela Anderson in der Gummivariante. „Die kann ich doch nicht testen“, entfuhr es der Pfandleiherin. Der Mann winkte ab: „Geht auch nicht. Pamela ist kaputt. Total schade. Die war immer so toll.“


MOPO

Von Glamour bis Gosse, von Blaulicht bis Rotlicht: Originale gibt es auf St. Pauli so einige. In der MOPO-Serie „Kiezmenschen“ zeigen Ihnen starke Frauen, protzende Kerle und Kultfiguren ihre Welt. Herzlich, persönlich, nah dran. Parallel dazu erzählen sie jede Woche im gleichnamigen Podcast ihre Geschichten.

Alle Podcast-Folgen der „Kiezmenschen“ finden Sie unter MOPO.de/Podcast, bei Spotify  und Apple Podcasts.

Es ist ihr Job, die angebotenen Waren genau zu prüfen und den Wert zu ermitteln. Schmuck, Uhren, Laptops, Handys und Spielekonsolen werden am häufigsten abgegeben. Sie schreibt einen Vertrag und zahlt den Kunden das Geld aus. Viele Kunden versuchen zu verhandeln. „Aber wir sind kein Basar. Ich bin sehr bestimmt.“ Allerdings gibt es auch Stammkunden, die seit Jahrzehnten kommen. Jeden Monat dieselbe Gitarre abgeben. Und sie immer wieder abholen. „Wenn die mal zehn Euro mehr brauchen, mache ich das.“

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Einige Kunden sind täglich da. „Manchmal sogar drei- bis viermal.“ Manche von ihnen sind drogenabhängig oder spielsüchtig und bringen Schmuck oder Uhren. Geklaute Sachen? „Der Kunde muss sich nur ausweisen. Damit erklärt er, dass es sich um sein Eigentum handelt. Davon müssen wir ausgehen, ansonsten macht sich der Kunde strafbar.“ Eine Rechnung verlangen sie nur bei neu verpackter Ware, Fahrrädern oder hochwertigen Taschen und Uhren. Wenn die Mitarbeiter allerdings vermuten, dass die Ware gestohlen ist, wird der Kunde abgewiesen und die anderen Filialen gewarnt. Sollte er es in einem anderen Leihhaus erneut versuchen, werde die Polizei alarmiert.

Insbesondere mit Drogenabhängigen gäbe es auch mal Diskussionen oder Ärger. Einen Mann wird Nadja nicht vergessen. Er flippte aus, weil sie sein altes Handy nicht annehmen wollte, schmiss das Mobiltelefon gegen die Scheibe, spuckte dagegen und brüllte: „Ich weiß, mit welcher Bahn du nach Hause fährst. Ich warte auf dich.“ Die Pfandleiherin alarmierte die Davidwache. Die Beamten begleiteten sie an diesem Abend zur Bahn – ohne, dass der Mann noch mal auftauchte. Eine Situation, die ihr Angst machte. Mit Bauchschmerzen zur Arbeit sei sie danach aber nicht gegangen.

Ein Geschäftsmann bekam 65.000 Euro ausgezahlt

Kleinere Nörgeleien und Beleidigungen überhört Nadja. Wenn es vulgär wird, ist allerdings Schluss. Dann fordert sie beim nächsten Mal eine Entschuldigung vom Kunden. „Das schlucke ich nicht so einfach runter. Ich muss mir nicht alles gefallen lassen“, sagt die Frau mit den blonden langen Haaren, Perlenohrringen und rotem Blazer. Dazwischengehen, wenn es Stress gibt, ist allerdings verboten. Die Mitarbeiter dürfen ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Sie sitzen gut geschützt hinter Panzerglas.

Kein Wunder. Teilweise wechseln satte Summen den Besitzer. Bis zu 100.000 Euro können die Mitarbeiter in bar auszahlen, danach wird überwiesen. Das teuerste Stück, das Nadja jemals hatte, verpfändete ein Geschäftsmann, der seine Mitarbeiter und Geschäftspartner nicht mehr bezahlen konnte. Nie zuvor sei er in einem Pfandhaus gewesen, doch nun ginge es nicht mehr anders, sagte er und gab ihr ein „atemberaubend schönes“ Brillant-Collier mit Zertifikat und Rechnung. 65.000 Euro bekam er dafür. „Das dauerte etwas länger beim Zählen. Damals gab es noch keine Zählmaschine.“

Die Pfandleiherin Nadja überprüft den Wert eines Rings.
Marius Röer

Die Pfandleiherin Nadja überprüft den Wert eines Rings.

Der Mann mit dem Collier zahlte die Zinsen und Gebühren und holte sein Pfand wieder ab. Wie etwa 95 Prozent aller Kunden. Sechs Monate läuft der Vertrag. Dann muss das Pfand abgeholt werden oder es geht in die Auktion. Die Kunden können den Vertrag auch um ein weiteres halbes Jahr verlängern. Manche machen das seit Jahrzehnten. Wie eine alte Dame, die vor fast 20 Jahren einen Kerzenständer abgab und ihn bis heute nicht ausgelöst hat. Stattdessen zahlt sie jeden Monat. „Das ist mir unbegreiflich. Die Zinsen übersteigen längst das Darlehen.“

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Einige Kunden begleitet sie seit ihren Anfängen vor 15 Jahren, kennt die Familiengeschichte, weiß um die Nöte. Es gibt Schicksale, die sie noch lange beschäftigen. Besonders Senioren, die den Krieg erlebt haben, die zufrieden waren mit dem bescheidenen Reichtum, den sie sich erarbeiten konnten. „Und dann kommen sie in der Rente einfach nicht zurecht.“ Wenn dann jemand vor ihr steht und sie kann die Sachen nicht beleihen, weil sie keinen Wert haben, „geht mir das richtig nahe.“

Alte Dame in größter Not weinte und zitterte

Nadja erinnert sich an eine ältere Dame. Sie zitterte und weinte, als sie den Ehering ihres verstorbenen Mannes aus der Tasche holte. Es war das letzte Erinnerungsstück an ihn, das sie noch hatte. Die Frau erzählte vom Krieg, von der Flucht, ihrer Arbeit. Sie sagte, sie wisse gar nicht, ob sie es schaffe, den Ring je wieder abzuholen. „Sie brauchte nur zehn Euro, um Essen kaufen zu können.“ Nadja ging an ihre Tasche und gab der Dame 20 Euro. Das einzige Mal, dass sie ihr Geld verschenkte. „Ich konnte den Ring nicht nehmen. Es ging einfach nicht.“ Die Erinnerung an die Frau sitzt immer noch tief.

Viel häufiger sind aber die schönen und skurrilen Momente. „Es ist bunt, vielfältig, witzig und offen. Jeder darf hier der sein, der er sein will.“ Manche Kunden kommen den einen Tag als Frau, den nächsten Tag als Mann. Sieben Jahre hat Nadja in dem Haus an der Reeperbahn gearbeitet. Nebenan die Zimmervermietung „Chez Ronny“, darüber Wohnungen. Doch die Zeiten sind vorbei. Ab und an wechseln die Mitarbeiter in eine der anderen sieben Hamburger Filialen. Momentan ist Nadja stellvertretende Leiterin in Altona. Sie vermisst den Kiez. Hier erlebte sie ihre intensivste Zeit. Ob sie zurück möchte? „Das obliegt nicht meiner Entscheidung.“ Aber nein sagen – das würde sie nicht.

Nadja (34) hat schon die skurrilsten Situationen in ihrem Job erlebt.
Marius Röer

Nadja (34) hat schon die skurrilsten Situationen in ihrem Job erlebt.

Steckbrief Nadja (34)

Spitzname und Bedeutung Auf dem Kiez wurde ich immer Musi genannt

Beruf/ erlernte Berufe Pfandleiherin, gelernte Bürokauffrau
St. Pauli ist für mich… unkonventionell, bunt und wild.
Mich nervt es tierisch, wenn… jemand unhöflich ist.

Ich träume davon… eine Weltreise zu machen.
Wenn mir einer blöd kommt,… dann komme ich ihm auch blöd.
Zum Abschalten… liege ich bei meinem Mann im Arm.
Als Kind… war ich bestimmt und habe sehr gerne diskutiert. Ich musste immer das letzte Wort haben.
Meine Eltern… sind grundverschieden. Meine Mutter eher ein Paradiesvogel, ganz im Gegensatz zu meinem Vater.
Vom Typ her bin ich… ehrlich und direkt. Viele beschreiben mich als hübsche Frau mit Kodderschnauze.

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