Marathon in Hamburg: Die sind doch alle vollkommen wahnsinnig!

Marathon in Hamburg: Die sind doch alle vollkommen wahnsinnig!

Jede Faser des Körpers schmerzt. Die Muskulatur wird hart. Die Beine? Bewegen sich, wirken aber wie Fremdkörper. Bis zur Erschöpfung geht es weiter. Aber warum? Gute Frage. Warum machen Menschen das? Rennen bis über das Limit hinaus. Auch noch in Funktionskleidung und mit Schuhen, deren Design so wirkt, als hätten sich Ed Hardy und Keith Haring auf LSD übergeben. Ich habe auch solche Teile. In Neongrün, mit einer Carbonplatte in der Sohle, man ist damit angeblich schneller. Profis jedenfalls. Amateure wie ich bekommen davon bloß Achillessehnenschmerzen. Und sagenhaft hässlich sind die Schuhe auch noch.

Ich erinnere mich gut an meinen Anfang. Mai, 2020. Plötzlich war es da, dieses Gefühl: Ich muss los. Corona hatte mich auf die Straße gebracht. Laufen. Abnehmen. Gesund leben. Sachen, über die ich mir jahrelang zu wenig Gedanken gemacht hatte. Dass mich da eigentlich etwas ganz anderes rausgetrieben hat, als die Pandemie, habe ich aber erst Monate später kapiert. So ein dumpfes Männerding von Kerlen mittleren Alters war das nämlich. Wie diese Typen, die keine Ahnung vom Handwerken haben, aber plötzlich ihr Dach mit Wärmewolle dämmen, einen Mini-Bagger leihen und daheim einen Teich ausheben, oder, wie ich, plötzlich der Meinung sind, sie müssten 150 Kilometer und mehr pro Monat auf dem Asphalt abreißen.

MOPO-Autor Julian König rennt für sein Leben gerne. Bisher eher die mittleren Distanzen. Bald will er sich an einen Marathon wagen.
Quandt

MOPO-Autor Julian König rennt für sein Leben gerne. Bisher eher die mittleren Distanzen. Bald will er sich an einen Marathon wagen.

Es wurde etwas Exzessives. Ich tauchte ein in eine Bubble, in der VO2max (Sauerstofftransport im Blut) und Pace (Zeit pro Kilometer) Gradmesser für Zufriedenheit sind. Hörte jeden Laufpodcast, las Studien, abonnierte Fachmagazine. Ich konsumierte alles. Wirklich ALLES rund ums Thema Joggen.

Sonntag ist in Hamburg der Marathon

Am Sonntag ist Marathon in Hamburg. Für mich das schönste Event dieser Stadt. Als ich das letzte Mal vor zwei Jahren mit einer Staffel am Start war, machte ein Typ kurz vor dem Überqueren der Ziellinie Liegestütze. Ich hatte erst wenige Tage zuvor Corona auskuriert und war entgegen dem Rat meines Hausarztes an den Start gegangen. Unser gemeinsamer Nenner: Unvernunft. Oder Besessenheit. Jedenfalls irgendwas mit einem recht unsympathischen Kern.

Dabei gibt es gute Gründe viel zu laufen und sich mit dem Thema intensiv zu beschäftigen. Laufen ist gut für das Herzkreislaufsystem. Weiß jeder. Laufen befreit den Kopf. Laufen findet in der Regel draußen statt, den Körper spüren, Grenzen testen. Man kann den Sport theoretisch bis ins hohe Alter ausüben. Angepasst natürlich. Laufen kann aber auch schnell zum Wahn werden, Druck ausüben, Eitelkeit erzeugen. Als ich Corona hatte, hustete ich Blut. Man könnte sich deshalb Sorgen machen. Oder man fragt sich, wann zur Hölle ich endlich wieder rennen darf?!?!

Lauf-Apps wie Strava sind Gelddruckmaschinen

In Lauf-Communitys gibt es viele, die so denken: Neulich postete einer einen Screenshot seiner Laufstrecke. Er war 24 Stunden am Stück auf einer Tartanbahn in Canberra im Kreis gelaufen. Oder der Kerl im Discounter, der vor mir stand und ausschließlich Steak und Innereien im Warenkorb hatte. Kiloweise. Ich sprach ihn drauf an. Er ernähre sich carnivor, berichtete er. Übersetzt: Er knallt sich von morgens bis abends Fleisch und Fisch rein.

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Aber warum machen Läufer das? Ich benutze bewusst das generische Maskulin. Natürlich gibt es auch Frauen, die glauben, dass das Leben ein ständiger Wettbewerb sei, aber mein Geschlecht ist da schon verhaltensauffällig. Kein Lauf ohne Tracking-App. Handy, Laufuhr, alles dabei. Jeder Meter wird überwacht, Puls-Zonen kontrolliert, Steigungen, Frequenz, Intervalle, Longrun (ginge auch auf Deutsch, klingt so aber cooler) – und ganz wichtig – der Vergleich mit den anderen. Ich bin mit Leuten befreundet, die seit Jahren jeden Tag mindestens eine Meile laufen. Streaker nennen die sich. Täglich spulen die einen Lauf ab, manchmal auch in der Mittagspause zehn Kilometer. Wenn die Pace (siehe oben) nicht stimmt, dann wird in der Beschreibung kurz die Windstärke („Katastrophenwind von vorn!“) erwähnt. Oder eine Aua-Emoji gepostet. Verletzt, klar, konnte nicht die gewohnte Leistung bringen. Auch steht manchmal der Hinweis dabei: Musste unterwegs ins Gebüsch. Genug Informationen. Danke!

Die vermutlich populärste Laufapp: Strava wird weltweit von 100 Millionen Menschen genutzt.
dpa

Die vermutlich populärste Lauf-App: Strava wird weltweit von 100 Millionen Menschen genutzt.

Nachzulesen ist das alles bei Apps wie Strava, die vermutlich populärste Lauf-Community. Laut Unternehmen nutzen 100 Millionen Menschen die App. Längst haben Firmen wie Asics, Nike oder Adidas eigene Apps auf den Markt gebracht oder etablierte aufgekauft. Und weil das Geschäft so gigantisch ist, bringen viele Laufstars wie Kilian Jornet eigene Schuhe auf den Markt. Die Preise liegen bei etwa 190 Euro pro Paar.

Wann wird der Ehrgeiz gefährlich?

Letztens habe ich einen Hinweis meiner App bekommen: Irgendwer hat mir den Titel „Local Legend“ auf meiner Haus-und-Hof-Strecke abgejagt. Normale Menschen würden sagen: „Na, und?! Was soll das überhaupt sein?“ Ehrlich. Keine Ahnung. Trotzdem bin ich die nächsten vier Tage die Strecke gerannt. Nimm das, Typ!

Zwischen Ehrgeiz und Selbstüberschätzung liegt oftmals bloß eine Startgebühr.

Dieses Jahr bin ich im Sommer für einen Halbmarathon angemeldet, 2025 aber soll es die volle Distanz sein. Ich werde dann 40, stecke also noch mittendrin in diesem Middle-Age-Krisenmodus. Ich werde bis dahin Kilometer fressen. Mit meinen vier Paar Laufschuhen (muss sein!), den 40-Euro-Spezialsocken und einer Stirnlampe im Winter, die mich wie ein Zechenarbeiter in unattraktiv engen Leggings aussehen lässt.

Ich mache mir jetzt schon Gedanken, was danach kommt, wenn ich dann irgendwann die 42,195 Kilometer (hoffentlich) gepackt habe. Vermutlich plündere ich einen Baumarkt und ziehe mit meinen zwei linken Händen eine Wand ins Kinderzimmer ein. Und falls nicht, mache ich es wie diesen Sonntag, stehe an der Strecke und feuere die 15.000 Marathon-Läuferinnen und -Läufer an. Mit höchstem Respekt vor dem Wahnsinn, den die da auf sich nehmen.

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