Randbemerkungen: Sechs Monate Überreaktion

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Eitan Shamir, der Direktor des Begin-Sadat-Zentrums für Strategische Studien an der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv erklärte unlängst: „Die Hamas als militärisches System, das Israel bedrohen kann, existiert nicht mehr. Sie schießt so gut wie keine Raketen mehr ab auf Israel. Von ihren 24 Bataillonen sind die meisten zerschlagen.“ Andrerseits: „Was wir in den nächsten Monaten viel sehen werden, sind gezielte Angriffe von kleinen Hamas-Teams, die aus dem Hinterhalt operieren.“

Besiegt sei die Terrororganisation allerdings „noch nicht“, trotz des bisher „großen Erfolgs“ (Shamir) von Israels Krieg im Gaza-Streifen. Von den (2023) geschätzt 35.000 bis 80.000 bewaffneten Mitgliedern der Hamas (mit allen ihren Untereinheiten, einschließlich Polizei und Geheimdienst) sei der wohl größte Teil getötet worden und wird zu den (geschätzt) rund 35.000 bisherigen Opfern des Vergeltungskriegs von Israel (der Krieg trat am Montag in seinen siebenten Monat) im Gaza-Streifen gezählt – allerdings besagen die Schätzungen, dass nur „höchstens jeder Dritte“ der Opfer ein Mitglied der Hamas (arabisch: „Begeisterung“, „Eifer“, Kampfgeist“) war, während die Welt Israel zunehmend an den Pranger stellt, wegen der noch nie dagewesenen Zerstörung des ursprünglich von 2,2 Millionen Menschen bewohnten Mittelmeer-Küstenstreifens, wegen fehlendem Proportionalitätsgefühl bei aller Racheblindheit und wegen der ungewöhnlich hohen Zahl an Kindern und Frauen, die von den Soldaten Israels bereits getötet wurden. Über alldem vergisst man die hinterlistige Brutalität des unmittelbaren Auslösers, die Hamas-Bluttat vom 7. Oktober 2023.

Die Sturheit, mit der die drei Zielvorgaben Benjamin Netanjahus vom 7. Oktober 2023 verfolgt werden – Zerschlagung der militärischen Kapazitäten der Hamas, Entmachtung der Hamas im Gaza-Streifen, Rückkehr der israelischen Geiseln – ist voll begründet, Sturheit aber für beide Seiten charakteristisch. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Spirale von Hass, Rache, Gewalt, Gier nach gegenseitiger Auslöschung eine kaum noch zu stoppende Eigendynamik entwickelt hat. Punkt eins der Zielvorgabe Netanjahus dürfte erfüllt sein (auch wenn im Raum Rafah „noch vier bis sechs Hamas-Bataillons“ stehen dürften, was allerdings bei den vorherigen Kampfeinheiten fast schon unbedeutend ist und im Vergleich zum Personalstand und der Ausrüstung der Armee Israels eigentlich als unbedeutend gelten sollte) wäre da nicht die selbstauferlegte Rachepflicht und der islamistische, Allah angeblich gefällige Selbstaufopferungsgedanke. 
Im Moment scheint Netanjahu zu zögern, seine seit Wochen immer wieder bekräftigte Absicht eines Finalschlags gegen die Hamas in Rafah durchführen zu lassen. Aber auch die Verhandlungen in der Moderation der USA, Katars und Ägyptens bezüglich Feuerpause und Geiselbefreiung (von den noch 135 Geiseln schätzt Israel, dass rund 100 am Leben sind) sind festgefahren und das (durchaus ehrenwerte, aber) verzweifelt anmutende politische Zappeln der deutschen Außenministerin im Nahen Osten hat bislang nichts gebracht – außer einer heftigen Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Israel und den USA und einem weltweiten Israel-Misstrauen. Direktor Shamir meint, für Israel sei es langfristig wichtiger, das Verhältnis zu den USA zu kitten. Bezüglich Rafah gäbe es „auch andere Lösungen“. Dies angesichts der Warnungen aus Washington an Israel, die umgangssprachlich etwa so zu übersetzen wären: „Nun ist´s aber genug mit diesem Feldzug!“

Derselbe Eitan Shamir hat auch etwas angesprochen, was „manche Leute“ als „Holocaust-Komplex“ bezeichnen. Jenes „Gefühl, dass man uns auslöschen will – (…) jemand will uns wirklich an den Kragen! Manchmal motiviert uns dieses Gefühl zu positiven Dingen. Aber (…) es kann dazu führen, dass man überreagiert.“
Ob Bibi Netanjahu das auch gelesen hat?
 

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