Randbemerkungen: Selbstüberdruss, Dekadenz…

Den Begriff „Pseudomorphose“ hörte ich erstmals als Lehrer, als ich einen Fahrradausflug mit meinen Schülern von Bokschan ins benachbarte Eisenstein zum Mineraliensammler Constantin Gruescu machte. Der Mann hatte überhaupt keine mineralogisch-geologische Ausbildung, arbeitete als Grubentechniker und hatte die Neugier und Schläue, von den untertag schuftenden Bergleuten interessante Gesteinsbrocken billig (oft im Wirtshaus) zu kaufen und sich diese von den Geologen und Mineralogen mit Hochschulbildung bestimmen und erklären zu lassen. 

Ein gutes Gedächtnis verhalf ihm dazu, immer bessere Führungen durch seine Sammlung zu machen. Schließlich hatte er die kompletteste Sammlung von Mineralien des Banater Berglands – des „Banater Erzgebirges“ – beisammen und galt als Fachmann im Bereich. Pseudomorphosen (griech. pseudo = falsch, pseudos = Lüge, Schein, Trug; morphe = Gestalt … grob übersetzt: Truggestalt, Lügenerscheinung) wird das Auftreten eines Minerals in Gestalt eines anderen Minerals bezeichnet, was im Kristallisierungsprozess geschehen kann: ein Mineral füllt einen Hohlraum aus, den ein anderes Mineral hinterlassen hat. 

Den Begriff hat sich Oswald Spengler aus der Mineralogie in seinen „Untergang des Abendlandes“ geholt, als „historische Pseudomorphose“. Er findet, die Spätantike sei eine „historische Pseudomorphose“ und hinderlich für die vergleichsweise fortschrittlichere damalige arabische Kultur gewesen, habe deren „äußere Gestalt“ gefälscht. Sie zu „fake“ gemacht. Karl Martell habe 732 mit seinem Sieg über die arabischen Heere verhindert, dass das Abendland einer arabisch-„orientalischen Pseudomorphose“ verfällt. Das Wirken Peters des Großen habe zu erreichen versucht, im 17. Jahrhundert dem Russentum eine „abendländische Pseudomorphose“ aufzuzwingen – was weder dem Zaren gelang, noch später den Bolschwiken, da weder der Kaiser aller Reußen, noch Lenin oder Stalin die „Seelenhaftigkeit“ der Russen bezwingen konnten.  – Da, mit der „Seelenhaftigkeit“, d.i. Mentalität, orthodoxe Religiosität, Obrigkeitsgläubigkeit, Untertänigkeit usw., liegt Spengler richtig, wenn man die Russen von heute und ihre Reaktionen auf Putin und den Ukrainekrieg zu verstehen sucht, auch wenn der Bolschewismus, die Abendlandhaftigkeit – Westimporte, „Pseudomorphosen“ – strikt angepasst an die russische „Seele“, nichts als Gefügigmachung und Untertänighaltung eines Volkes sind und ziemlich erfolgreich wirken. Vielleicht ist es das einzige Langzeitexperiment, das noch läuft, wenn man die russifizierte Form des abendländischen Bolschewismus als doppelte Pseudomorphose betrachtet, des Begriffsinhalts (der Bolschewismus stülpt sich über die „russische Seelenhaftigkeit“) und des Ziels (die russische Seele passt sich den Bolschewismus an). Das Resultat ist ein Volk, das seinem Führer mehrheitlich und blind aufs Wort glaubt und ein Führer, der sich für unfehlbar hält und hoch zu Ross Gespenster jagt auf ihm nicht gehörenden Gefilden. So kann man’s sehen.
Das Abendland, das seit über hundert Jahren seinen Lebenszyklus laut Spengler beendet hat, geht immer noch unter. Nicht nur selbstzerfleischend agierend und seine Grundbegriffe – Demokratie, Rechtsgleichheit, Toleranz, Freiheit, soziale und Geschlechter-Gleichheit, Brüderlichkeit – jederzeit mit morbider Lust in Zweifel ziehend, andrerseits müde ist, entzweit, sich um jeden (!?) Preis Ruhe und Frieden wünscht. Schon Hegel – von dem, wie auch von Nietzsche und anderen – sich Spengler einiges abschaute, meinte, keine äußere Macht sei stark genug, eine Zivilisation auseinanderzubrechen. Zivilisationen zerbrechen ausschließlich durch innere Zerwürfnisse. Was leider ein Viktor Orbán, eine Giorgia Meloni, gelegentlich ein Macron, ein Nehammer, ein Rutte und viele andere noch nie gehört zu haben scheinen. Trump interessiert sowas gar nicht.
 

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