„Russlands aggressive Pläne kennen keine Grenzen“

„Russlands aggressive Pläne kennen keine Grenzen“

Hunderttausende tote und verletzte Soldaten, viele tausende zivile Opfer, ganze Städte und Dörfer zerstört – so die vorläufige Bilanz des Kriegs in der Ukraine. Im Februar dieses Jahres wurden zwei Jahre seit dem russischen Überfall auf die Ukraine begangen, gleichzeitig auch zehn Jahre seit einem der blutigsten Tage auf dem Unabhängigkeitsplatz der ukrainischen Hauptstadt, nachdem Russland die Krim besetzte und den Krieg im Donbass entfachte. 

Am 24. Februar 2022 wurde ein Warnsignal für die ganze Welt gegeben: Russland ist eine Gefahr für den Weltfrieden. Wie der Widerstand des Landes an der Grenze zu Rumänien im Krieg mit Russland weiterhin aussieht, wie sich zwei Jahre nach dem Großüberfall das Gesicht Europas verändert hat und wie Freiheit nach zwei Jahren Krieg wiederhergestellt werden kann, darüber hat ADZ-Redakteurin Andreea Oance mit dem ukrainischen Historiker und Schriftsteller Oleksandr Babich gesprochen. Der in Odessa wohnhafte Babich ist gleichzeitig Leiter der öffentlichen Organisation „Society and Historical Heritage“, Autor von fünf Büchern über Krieg und Besatzung, Mitautor des Nominierungsdossiers von Odessa in der UNESCO – das Historische Zentrum der ukrainischen Hafenstadt wurde 2023 in die Liste der Weltkulturerbestätte aufgenommen, die aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine gefährdet sind.

Sie sind Geschichtswissenschaftler, ist denn die Ukraine „russisches Territorium“, so wie Putin behauptet?

Putin ist ein bekannter Geschichtsfälscher. Im Allgemeinen zielt die gesamte russische Propaganda darauf ab, Aggressionen zu rechtfertigen. Die Ukraine hat ihre eigene reiche Geschichte, Sprache und Kultur. Historisch gesehen unterscheidet sich das ukrainische Volk von den Russen: Wir haben uns immer mehr nach Europa orientiert, Russland dagegen nach Asien. Die Ukraine ist ein Staat, der seit mehr als 30 Jahren von der UNO anerkannt ist. Im Jahr 2003 hat Putin persönlich das Abkommen über die Staatsgrenzen mit der Ukraine unterzeichnet. Zu sagen, wir seien eine Nation und die Ukraine dann „russisches Territorium“, ist also illusorisch.

Warum gibt die Ukraine nicht einige der Gebiete in der Nachbarschaft Russlands auf, in denen sich anscheinend die Mehrheit der Ukrainer in einem kürzlich durchgeführten Referendum ohnehin als russischstämmig bezeichnet hat?

Alle Volksbefragungen auf der Krim und im Donbass wurden unter Waffengewalt abgehalten. Ihre Ergebnisse wurden gefälscht. Sie werden von der Weltgemeinschaft nicht anerkannt. All diese Gebiete sind also unrechtmäßig von Russland angeschlossen. Russische Truppen wurden dort eingeführt, d.h. es handelt sich um die militärische Besetzung der Gebiete der Ukraine und der ukrainischen Bürger. Kein Land der Welt sollte um sein Territorium gegen einen Aggressor kämpfen. Ja, wir haben jetzt nicht genug Kraft, um unser Land schnell zurückzugewinnen, aber wir müssen uns darum bemühen.

Die Menschen denken, dass ein russischer Angriff auf die Republik Moldau oder Polen nur Gerüchte sind, die verbreitet werden, um die Leute zu ängstigen. Aber auch der Angriff auf die  Ukraine war ein Gerücht, das Februar 2022 Wirklichkeit wurde. Was würde ein Angriff auf die Republik Moldau für Rumänien und Europa bedeuten?

Russlands aggressive Pläne kennen keine Grenzen. Das hören wir von russischen Politikern und Propagandisten fast jeden Tag. Es ist leicht, Zitate zu finden, die davon sprechen, „den Ärmelkanal zu erreichen“, „London zu bombardieren“, „alles zurückzuholen, was 1945 unter der Kontrolle der UdSSR war“. Es ist also klar, dass, wenn Putin das Gebiet der Ukraine an sich reißt, dass die baltischen Länder, Moldau, Polen, Rumänien folgen werden… Putins Russland ist ein Aggressor, ein Eroberer, der keine Grenzen kennt. Es will das alte Imperium wiederbeleben und das ist ohne Eroberungen unmöglich. Deshalb muss man sich damit abfinden, dass die Ukraine ein Vorposten ist, der einer paneuropäischen Bedrohung durch Russland derzeit im Wege steht.

Rumänien hält sich dank der NATO für sicher vor Russland. Aber ist denn Rumänien wirklich geschützt?

Wir sind von der NATO enttäuscht. Wie sich herausstellte, gibt es eine Menge Probleme in der Mitte dieser Union. Nicht alle Länder haben starke Armeen, im Gegenteil, alle haben am Militärhaushalt gespart, denn 80 Jahre ohne Krieg haben das alte Europa entspannt. Es gibt einen ernsten Mangel an Waffen und Munition. Die Politik der USA, des stärksten Mitglieds der Allianz, wird missverstanden. Ich bin mir nicht sicher, ob die Niederländer oder Spanier bereit sein werden, für Rumänien oder Litauen zu kämpfen. Jedes Land des Bündnisses muss jetzt erkennen, dass es persönlich für einen großen Krieg bereit sein muss.

Putin sprach zu Beginn der „Sonderoperation“ von der „Entnazifizierung der Ukraine“. Was hat er damit gemeint? Gibt es in der Ukraine ein nazistisches Vorgehen insbesondere gegen die russische Minderheit?
Ja, Putin hat diese These aktiv genutzt. Seit 2014 wurde in der Ukraine kein einziger Angriff auf Russischsprachige verzeichnet. Rechtsextreme Parteien haben etwa 1 Prozent der Stimmen erhalten und sind nicht ins Parlament eingezogen. Ihre Ideen finden bei den Bürgern keinen Rückhalt.

Meine Kinder und ich sprechen in Odessa hauptsächlich Russisch. Meine Frau ist eine ethnische Russin. Wir fahren jetzt ständig in die Hauptstadt der Westukraine, Lviv, und dort gibt es, wie überall in der Ukraine, keine Probleme mit der russischen Sprache und ethnischen Russen. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass es in der Ukraine keinen Nazismus gibt. Sicherlich gibt es unter den Bedingungen des Krieges einen Anstieg des Nationalbewusstseins, was ganz natürlich ist. Aber das ist in keiner Weise etwas, was man als Nazismus bezeichnen kann.

Schwindet die ukrainische Unterstützung für den sogenannten „Selenskyjs Krieg“?

Ich kann sagen, dass Selenskyjs Ansehen definitiv sinkt. Die Menschen sind des Krieges müde, der fehlenden Reformen im Strafverfolgungssystem, der Korruption… All das ist nicht zu seinen Gunsten. Ich bin kein Anhänger von Selenskyj und habe nicht für ihn gestimmt. Aber wir müssen verstehen, dass wir nicht für den Präsidenten kämpfen. Wir kämpfen für unser Vaterland, für unsere Freiheit und für die Zukunft unserer Kinder. Deshalb ist die Unterstützung der Armee nach wie vor sehr groß.

Rumänien hat historische Empfindlichkeiten in seinen Beziehungen zur Ukraine: die erzwungene Abtretung von Gebieten durch die UdSSR, das Verbot rumänischsprachiger Schulen und in jüngster Zeit die Proteste der Bauern gegen billiges Getreide in der Ukraine. Sind diese Gründe stark genug, um die Rumänen gegen die Ukraine aufzubringen?

Alle Nachbarstaaten haben ihre eigenen historischen Ansprüche und unangenehmen Erinnerungen. Als Historiker beschäftige ich mich mit der rumänischen Besetzung von Odessa in den Jahren 1941-1944, und auch ich habe etwas, woran ich mich erinnern kann. Aber wir leben im 21. Jahrhundert, und wir müssen alle Ansprüche in der Vergangenheit lassen, um voranzukommen und solche Aggressoren wie Russland zu besiegen. Kürzlich wurde eine Straße in Odessa zu Ehren des großen Dichters Mihai Eminescu umbenannt. Ist dies nicht ein Zeichen dafür, dass Odessa eine gutnachbarschaftliche Haltung hegt? Die Art und Weise, wie die Rumänen unsere Flüchtlinge aufgenommen haben, ist meines Erachtens der beste Beweis für unsere guten Beziehungen. Und wir werden immer in der Lage sein, kleinere Probleme zivilisiert zu lösen.

Sie sind ein Experte für den Zweiten Weltkrieg – welche Fakten aus der Geschichte sollten wir als Lektion für den heutigen Krieg nehmen?

Dieser Krieg unterscheidet sich stark vom Zweiten Weltkrieg. Die Verfügbarkeit neuer technischer Mittel (Satelliten, Drohnen) macht es unmöglich, ein Manöver zu verbergen. FPV-Drohnen haben Panzern und gepanzerten Fahrzeugen fast den Rang abgelaufen. Auf See hat die Ukraine Dutzende von russischen Schiffen zerstört, obwohl sie fast keine Flotte hat… Was mir wirklich auffällt, ist die mittelalterliche Grausamkeit der Russen. Massenmord an der Zivilbevölkerung, Zerstörung ganzer Städte mitsamt ihrer Bevölkerung, ständige Bombardierung von Wohnhäusern – das ist die Art von Völkermord, die man mit dem vergleichen kann, was die UdSSR unter der Führung von Lenin oder Stalin getan hat. Sie sind auch im 21. Jahrhundert Barbaren geblieben, es ist sehr ähnlich wie die Massenvergewaltigung deutscher Frauen 1945 durch sowjetische Soldaten.

Gibt es zum jetzigen Zeitpunkt ein mögliches Szenario für die Beendigung des Krieges durch einen ukrainischen Sieg? Und wenn ja, wann und wie?

Niemand kann das Szenario des Sieges vorhersagen. Wir wissen nur, dass die ukrainische Flagge nicht über dem Kreml gehisst werden wird. Heute ist es für uns schwierig, uns eine schnelle Rückkehr der Krim und einen Rückzug in die Grenzen von 1991 vorzustellen. Das realistischste Szenario, das ich sehe, ist die Stabilisierung der Front ungefähr an den Grenzen, an denen sie sich jetzt befindet (in Anwesenheit von Waffenlieferungen aus dem Westen), der Rückzug der russischen Horden aus der Defensive und der harte Druck von Sanktionen auf Russland, mit dem Ziel, es dessen Potenzials zu berauben, irgendwelche offensiven Aktionen durchzuführen.

Wie kann die Freiheit nach zwei Jahren Krieg wiederhergestellt werden? 

Der Krieg dauert für uns nicht nur zwei Jahre, sondern zehn Jahre an. Und die Freiheit als eine Kategorie bleibt in allen Gebieten der Ukraine. Wir sind ein demokratisches, tolerantes, europäisches Land mit allen normalen Attributen, einschließlich der Freiheit. Dort, wo die Besatzer das Sagen haben, ist das aber nicht der Fall. In diesen Gebieten werden Menschen getötet, beraubt und in Keller gesteckt, wo sie gefoltert werden, alle, die die Ukraine unterstützt haben, werden dort vermisst… Wenn wir diese Gebiete zurückgewinnen, werden dort wieder normale Gesetze herrschen und somit auch die Freiheit im allgemeinen Sinne der Zivilisation.

Welche Rolle spielen die westlichen Länder im Krieg und bei der Einführung der Freiheit?

Die Hauptaufgabe der westlichen Länder besteht darin, nicht zuzulassen, dass ein Diktator ein unabhängiges Nachbarland zerstört. Wenn aber dies Putin gelingt, ist das ein Signal an alle totalitären Regime, dass ihr Modell erfolgreicher ist als das liberal-demokratische. Und das ist eine totale Bedrohung für das gesamte Weltsystem. Hören Sie also nicht auf, die Ukraine vor allem mit Waffen zu unterstützen.

Was wird passieren, wenn die Ukraine den Krieg verliert?

Wenn es kein Wir geben wird, werdet Ihr es auch nicht mehr sein. Der Krieg wird über die Donau nach Europa kommen.

Was wird mit Russland geschehen, wenn es den Krieg verliert?

Ich hoffe, dass es sich in mehrere freie, demokratische Länder auflöst und in Europa für mehrere Jahrhunderte Frieden herrscht. Denn solange es ein Imperium bleibt, wird es eine Bedrohung für die Welt sein.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

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