Wort zum Sonntag: Das dezentralisierte Ich

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In uns Menschen herrscht die Neigung, uns zum Mittelpunkt zu machen, um den sich alles zu drehen hat. Wo diese Neigung zusätzlich hochgezüchtet wird, merkt man sogleich am Benehmen des Betreffenden. Für einen solchen Menschen scheinen die Mitmenschen nur da zu sein, um als Spielball seiner Launen und Leidenschaften zu dienen. Dabei halten sie die ihnen erwiesenen Dienste für so selbstverständlich, dass sie darüber kein Wort des Dankes verlieren. Nur aus einer solchen Verhaltensweise konnte das Sprichwort entstehen: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan – der Mohr kann gehen!“

Die Geschichte ist reich an Menschen, die nur „Herr“ sein wollen. Andernfalls hätten die allen Menschenrechten hohnsprechende Sklaverei und die berüchtigte Vielweiberei gar nicht erst entstehen können. Aus dieser maßlosen Selbstherrlichkeit, mit der sich Macht besitzende Menschen für den Nabel der Welt betrachten, gingen die speichelleckerischen Hofetiketten hervor: Die römischen Kaiser ließen sich Weihrauch streuen und als Götter verehren, manchen Machthabern durften sich die Untergebenen nur auf den Knien nahen. Der französische König Ludwig XIV. erklärte hochtrabend: „Der Staat, das bin ich!“ Wenn er mit seinem Hofstaat der hl. Messe beiwohnte, wandten sich die Hofherren und Hofdamen nicht dem Altar, sondern dem König zu.

Diese falsche Einstellung, „Mein Platz ist im Zentrum, dein Platz an der Peripherie“, ist schuld an der Unterjochung und Ausbeutung ganzer Völkerschaften. Deshalb ist die Menschheitsgeschichte seit Kain und Abel mit Blut und Tränen geschrieben. Und es könnte doch alles ganz anders sein. Wie soll man das nur fertigbringen? Das hat uns Christus am Gründonnerstagabend vorgemacht. Er, der Sohn des lebendigen Gottes, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden und in dessen Namen sich einst alle Knie beugen müssen, hätte sich mit Recht als Mittelpunkt der Welt betrachten können. Was tat er? Er stand beim Abendmahl auf, goss Wasser in die Schüssel und wusch seinen Jüngern die Füße. Der Herr machte sich zum Diener seiner Diener.

Staunen wir über diese selbstlose Tat? Sie gehört zum Charakter Christi. „Gott ist die Liebe!“, sagt der Apostel Johannes. Christus hat die Liebe Gottes auf die Erde zu uns Menschen gebracht. Das Wesen der wahren Liebe besteht darin: Sie will nicht herrschen, sondern dienen; sie will nicht für sich leben, sondern für die andern; sie dezentralisiert das Ich, nimmt das Du von der Peripherie und stellt es ins Zentrum; sie ist nicht auf das Ich, sondern auf das Du ausgerichtet. Mit der Fußwaschung seiner Jünger hat uns Christus augenscheinlich gezeigt, wie die wahre Liebe beschaffen ist. Danach erklärte er seinen Jüngern sein außergewöhnliches Handeln: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben. Was ich an euch getan, das sollt auch ihr einander tun!“ Würden alle Menschen danach handeln, sähe die Welt ganz anders aus, würden schwere Probleme, an denen wir uns die Zähne ausbeißen, kinderleicht gelöst werden. 

In der Politik und im Staatswesen wird immer wieder „Dezentralisation“ gefordert. Von ihr erhofft man sich ein besseres Zusammenleben. Das allein bringt nicht die erwartete Verbesserung der Zustände. Die Heilung eines erkrankten Baumes muss an der Wurzel ansetzen. Auch die Heilung des kranken Menschheitsbaumes muss an der Wurzel beginnen. Die Wurzel ist das Ich. Welche Folgen zeitigt eine wenigstens zeitweilige Dezentralisation des Ich? In Paris organisiert ein Komitee zu Beginn des Frühlings die „Woche der Güte“. Die Akteure dieses menschenfreundlichen Tuns besuchen Spitäler, veranstalten Konzerte für Kranke, verteilen Spielzeug an arme Kinder, Geld und Lebensmittel an Bedürftige. Über Zeitungen werden der Öffentlichkeit die ärgsten Fälle von Not mitgeteilt. Von allen Seiten laufen Spenden ein. Man bemüht sich in dieser Woche besonders gütig auf dem Arbeitsplatz, rücksichtsvoll in der Straßenbahn zu sein.

Handeln auch wir so. Das selbstlose Beispiel Christi soll uns dazu anfeuern. Dehnen wir aber dieses Handeln auf alle Wochen des Jahres aus und seien wir davon überzeugt: Am nächsten zu Christus steht der Mensch, der das Ich zu dezentralisieren vermag. An solchen Menschen erfüllt sich die Verheißung Christi, die er bei der Fußwaschung gesprochen: „Wenn ihr das versteht und danach handelt, werdet ihr bei all eurem Tun selig sein!“
 

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