„Wunsch nach Größe“: Warum junge Hamburger plötzlich vom Kalifat träumen

„Wunsch nach Größe“: Warum junge Hamburger plötzlich vom Kalifat träumen

Der typische Anhänger von „Muslim Interaktiv“ ist 18, 20, 25 Jahre alt, in Deutschland geboren, hier zur Schule gegangen. Er genießt seit seiner Geburt Freiheit und Demokratie. Und träumt trotzdem von einem Kalifat, ihm ist der Koran heiliger als das Grundgesetz. Wie ist das möglich?

Nach der skandalösen Demo von „Muslim Interaktiv“ am vergangenen Samstag am Steindamm (St. Georg) gibt es viele offene Fragen: Wie groß ist das Mobilisierungspotenzial? Wie gefährlich ist die Gruppe? Und wie wirbt sie neue Anhänger? Einblicke in eine Parallelwelt, in der die Radikalisierung junger Menschen auf Hochtouren läuft.

Wie schaffen es die Islamisten, junge Hamburger in ihren Bann zu ziehen?

Ahmad Mansour, selbst arabischer Herkunft und einer der besten Kenner des Islamismus, sagt: Eine ganz „neue Generation von Islamisten“ sei am Werk, „die sich fast ausschließlich in den sozialen Medien bewegt und einen sehr professionellen Auftritt hat“. Mansour hat den Begriff „TikTok-Radikalisierung“ geprägt. Via Internet erreichen „Muslim Interaktiv“, „Realität Islam“ und „Generation Islam“ täglich Zigtausende junge Menschen. „Muslim Interaktiv“ hat bei TikTok 24.000 Follower.

Raheem Boateng (25), Student, Mutter Deutsche, Vater aus Ghana. Er hat die Demo angemeldet, er ist das Gesicht von „Muslim Interaktiv“.
Olaf Wunder

Raheem Boateng (25), Student, Mutter Deutsche, Vater aus Ghana. Er hat die Demo angemeldet, er ist das Gesicht von „Muslim Interaktiv“.

Joe Adade Boateng, der sich auch „Raheem“ nennt, ist der Kopf von „Muslim Interaktiv“. Ein äußerst kluger und redegewandter 25-jähriger Lehramtsstudent. Mutter Deutsche, Vater aus Ghana. Als islamistischer Influencer postet Boateng regelmäßig Videos, die eines gemeinsam haben: Muslime werden als Opfer dargestellt. Überall in der Welt, aber auch hier in Deutschland würden Muslime unterdrückt, verfolgt und bedroht, behauptet er und fordert, sie müssten sich zusammenschließen und sich wehren. Der Krieg in Gaza ist für ihn eine Steilvorlage: „Gerade jetzt, in diesen emotional stark aufgeladenen Zeiten während des Gaza-Kriegs, erleben wir eine Zunahme des Islamismus, die nicht enden wird, wenn der Krieg vorüber ist“, so Mansour.

Welche Jugendlichen sind besonders anfällig für Radikalisierung?

„Raheem“ Boatengs Propaganda fällt bei jungen Muslimen auf fruchtbaren Boden, vor allem bei solchen, die  Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Manche Muslime – selbst solche, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen – fühlen sich laut eines Experten in Deutschland nicht willkommen: „In der Kindheit haben sie erlebt, dass andere Mitschüler Bleistifte mit ihrem Vornamen bekamen. Matteo, Leon, Luca, Paul, das alles gab’s zu kaufen, aber Bleistifte mit Mohammed oder Aydin nicht.“ Später erlebten die jungen Menschen, dass sie aufgrund ihres beispielsweise arabisch oder türkisch klingenden Namens schlechter einen Job oder eine Wohnung fanden.

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, kein richtiger Deutscher zu sein, aber auch kein richtiger Araber oder Türke – dieses Gefühl sei der Nährboden, auf dem der Islamismus gedeihe.

Diskriminierungserfahrungen allein aber erklären die Radikalisierung nicht. In der Regel komme eine persönliche Krise hinzu, so die Experten: „Ein Gefängnisaufenthalt, Gewalt in der Familie, Mobbing. Eine solche Krise führt dazu, dass sich junge Menschen auf die Suche begeben – und dann auf Islamisten treffen“, so ein Insider. Für Jugendliche auf Identitäts- und Sinnsuche sei der Islamismus deshalb so attraktiv, weil er ihnen eine vermeintlich klare Orientierung bietet. Einfache Lösungen in einer komplexen und unübersichtlichen Welt.

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Die Fachleute sagen, dass vor allem solche jungen Migranten gefährdet seien, in deren Elternhaus der Islam keine große Rolle spielte, die also keine fundierte religiöse Erziehung genossen haben. Dann falle es den Islamisten leicht, ihnen einzureden, was „der wahre Islam“ sei.

Wer sind die Drahtzieher hinter „Muslim Interaktiv“?

Verfassungsschützer sind überzeugt: „Muslim Interaktiv“ steht der weltweit operierenden islamistischen Gruppe Hizb ut-Tahrir (HuT) nahe, die in den 50er Jahren gegründet wurde und die Errichtung eines globalen Kalifatstaates anstrebt. Seit 2003 ist HuT in Deutschland verboten. Grund war insbesondere der radikale Antisemitismus dieser Organisation. HuT hält Israel für die Wurzel allen Übels.

„Muslim Interaktiv“: Gefährliche Islamisten ködern junge Muslime via Social Media.
Imago

„Muslim Interaktiv“: Gefährliche Islamisten ködern junge Muslime via Social Media.

Seit dem Verbot operieren HuT-Anhänger im Geheimen, und zwar vornehmlich durch drei Tarnorganisationen: „Generation Islam“ (Nordrhein-Westfalen), „Realität Islam“ (Rhein-Main-Gebiet) und „Muslim Interaktiv“ (Hamburg).

Die Anhänger von HuT sind strikt dagegen, dass sich Muslime hierzulande integrieren. HuT wirft der Bundesrepublik vor, eine „Wertediktatur“ zu sein, und verlangt, dass alle Muslime streng nach den Gesetzen der Scharia leben.

Hat „Muslim Interaktiv“ viele Mitglieder?

In Deutschland leben rund fünf Millionen Muslime, in Hamburg 90.000. Nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz sind Islamisten. Die Verfassungsschutzbehörden rechnen deutschlandweit rund 750 Personen der HuT zu, davon etwa 360 in Hamburg. Dem harten Kern von „Muslim Interaktiv“ gehören wohl nur rund 20 Personen an. Aber sie sind laut, ihr Mobilisierungspotenzial bemerkenswert. An einer Demo von „Muslim Interaktiv“ auf dem Steindamm im Februar 2023 beteiligten sich 3500 Menschen. Zur Kundgebung am vergangenen Samstag kamen 1100 Personen.

Die Islamisten wollen einen Kalifatsstaat gründen. Was ist das überhaupt?

Ein Kalifat ist eine islamische Regierungsform, bei der die weltliche und geistliche Führerschaft in der Person eines Kalifen vereint ist. 

Geheimtreffen von „Muslim Interaktiv“ Anfang April in einem Veranstaltungszentrum in Allermöhe.
Marius Röer

Geheimtreffen von „Muslim Interaktiv“ Anfang April in einem Veranstaltungszentrum in Allermöhe.

Islamisten wollen deshalb ein Kalifat schaffen, weil es ihr Ziel ist, dass der Islam wieder zu einer weltbeherrschenden Macht wird – so wie im sogenannten „Goldenen Zeitalter“ zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert. Damals beherrschten Kalifen ein islamisches Weltreich, das von Nordafrika bis Zentralasien reichte und nicht nur militärisch, sondern auch wissenschaftlich und kulturell führend war. Der Wunsch nach Größe und Stärke als Folge eines unter Muslimen weit verbreiteten Minderwertigkeitskomplexes. Viele fühlen sich von einer westlich geprägten Moderne unterdrückt und fremdbestimmt. Als bei der Demo am vergangenen Samstag ein Redner drohte, der Westen werde zur Rechenschaft gezogen, wenn erst der „schlafende Riese“ wieder erwacht sei, war genau das gemeint.

Wie erkennen Eltern, dass sich ihr Kind radikalisiert – und was können sie tun?

Wenn Ihr Kind seine Lebensweise stark ändert und die vorherige als verwerflich darstellt, wenn es sich aus dem bisherigen Freundeskreis zurückzieht, aggressiv wird, wenn es um die Verteidigung der Religion geht, und nur die eigene Auslegung des Islams zulässt, dann sind das Alarmsignale. In Hamburg bietet die Beratungsstelle Legato Betroffenen Hilfe – nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Arabisch, Dari, Englisch, Farsi, Kurdisch und Türkisch. Telefonisch erreichbar unter (040) 38 90 29 52, E-Mail: beratung@legato-hamburg.de.

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