„Die wichtigsten Entscheidungen muss man mit dem Herzen treffen“

„Die wichtigsten Entscheidungen muss man mit dem Herzen treffen“

Seit fast drei Jahren steht Nina May als Chefredakteurin an der Spitze der einzigen deutschsprachigenTageszeitung in Südosteuropa, unserer ADZ. Die Leitungsfunktion stellt sie oft vor Herausforderungen, denn es ist nach wie vor nicht leicht, Mitarbeiter zu finden, die gut Deutsch sprechen und schreiben können – um nur eines der Probleme zu nennen, mit denen sich die ADZ bereits seit einigen Jahren auseinandersetzt. Doch Nina May meistert den Chefredakteur-Job mit Lockerheit, Flexibilität und oft auch mit Humor, wie sie selbst zugibt. Sie hat ein offenes Ohr für ihre Mitarbeiter und steht immer hinter ihnen. In Österreich geboren, verbrachte Nina May den Großteil ihrer Kindheit in Deutschland und lebte sogar ein Jahr in den USA, um schließlich eine neue Heimat in Rumänien zu finden. Wie sie zum Journalistenberuf gestoßen ist, was ihr an ihrem Job gefällt oder wie sie die ADZ in Zukunft sieht, das und vieles mehr erfahren Sie aus folgendem Gespräch, das Raluca Nelepcu mit Nina May geführt hat.

Die meisten ADZ-Leser, und selbst einige Kollegen aus den Lokalredaktionen, kennen dich nur als Unterzeichnerin deiner Texte. Deswegen muss ich dich fragen: Wer ist Nina May in Wirklichkeit? 

Oh je – was wollt ihr wissen? (lacht) – Tretrollerfahrerin, Naturapostel, Landlebenfan… ausgestiegen 2008 aus der deutschen Überkonsumwelt auf der Suche nach einem naturnahen Leben in Siebenbürgen. Nach zwei Jahren auf dem Dorf 2010 meiner großen Liebe begegnet – mit 45 Jahren! Zwischen uns fast 500 Kilometer… Dann musste ich schweren Herzens einen Kompromiss eingehen: Raus aus der ländlichen Idylle – in die Hauptstadt. Meine Bedingung: dass wir uns in einem dörflichen Vorort niederlassen. Mein Mann teilte diese Vision und ich habe in Siebenbürgen alles verkauft, um noch einmal von vorne anzufangen. Es folgte eine schwierige Übergangsphase – Wohnblock in Bukarest, dann zur Miete auf dem Land, die über 80-jährige Schwiegermutter im Schlepptau – bis wir unseren Traum vom eigenen kleinen Paradies realisieren konnten. Aber es war auch eine tolle Zeit: Reisen, ein Bildband über das UNESCO-Kulturerbe Rumäniens mit Fotos meines Mannes und ähnliche gemeinsame Projekte – und schließlich die ADZ! Mein Leben bestätigt: die wichtigsten Entscheidungen muss man mit dem Herzen treffen.

Wann und wie bist du zum Journalismus gestoßen? 

Geschrieben habe ich schon immer gern, aber von der Presse hatte ich keine gute Meinung. In Deutschland musste ich einmal als Expertin für nukleare Bedrohungen einen Politiker briefen, der anschließend mit Journalisten gesprochen hat – und was rauskam, war mit Sicherheit nicht das, was ich gesagt hatte! Nie hätte ich gedacht, einmal selbst bei der Presse zu landen – als Physikerin noch dazu.

Mit der ADZ kam ich 2010 in Berührung: Damals noch „Aussteigerin“, lernte ich auf dem Sachsentreffen in Bistritz Frau Wittstock kennen – durch meinen heutigen Ehemann, George Dumitriu, der beim Denkmalschutzamt jahrelang die Inventarisierung sächsischen Kulturerbes begleitet und für die Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe fotografisch dokumentiert hat. Lustigerweise hat er mir die ersten Kontakte zu Sachsen hergestellt und Wissen vermittelt. Als wir uns entschlossen, zu heiraten und ich nach Bukarest zog, wurde aus meinem anfänglichen Volontariat im Mai 2011 ein richtiger Job.

Du leitest die Tageszeitung der deutschen Minderheit in Rumänien. Was macht diese Zeitung, unsere Zeitung, so besonders?

Alles! – Dass sie kein kommerzielles Projekt ist, nicht mit der Mainstream-Presse schwimmen und nicht um Klicks heischen muss. Dass sie meiner Vorstellung von freier Presse entspricht: Nie habe ich erlebt, dass uns das Forum diktiert hätte, was wir schreiben sollen oder nicht. Dass die Zeitung einer Gemeinschaft dient und für einige tatsächlich unentbehrlich ist. Die ADZ als lebendes Dokument für die deutsche Minderheit im Wandel der Zeit bringt diese auch anderen Lesern näher. Sie ist aber auch Botschafter für Rumänien im Ausland und vermittelt ein anderes Rumänienbild als die üblichen Vorurteile. 

Toll ist, dass auch ausführlichere Artikel gelesen werden – ich bekomme immer wieder Feedback oder Einladungen zu Konferenzen, etwa mit Studenten. Das macht die ADZ zum Multiplikator – und Journalismus zur Aufgabe. 

Welche sind die größten Herausforderungen, mit der sich die ADZ derzeit auseinandersetzt? Und wie siehst du diese gelöst?

Es ist sehr schwierig, zeitgerecht Personal mit ausreichend guten Deutschkenntnissen zu finden. Bis jetzt lief das fast immer über Mundpropaganda. Der Vertrieb ist ein Problem, mit der Post klappt es oft nicht und der Druck wird auch immer teurer. Das elektronische PDF-Abo hat aber zumindest einen Teil dieser Probleme gelöst. Die Sprachqualität zu halten ist eine Herausforderung, die wir aber noch ganz gut meistern, auch weil es immer wieder Mitarbeiter aus Deutschland gibt. Eine Musterlösung sehe ich nicht. Man muss flexibel sein, improvisieren, Probleme kompensieren, hoffen, dass die Balance für die Leser noch stimmt. Sein Bestes geben, mit Liebe.

Die deutsche Minderheit ist im letzten Jahrzehnt stark geschrumpft. Inwiefern rechtfertigt sich noch die ADZ als Tageszeitung?

Eine überschaubare Tageszeitung wie die ADZ ist aus vielerlei Hinsicht ein großartiges Angebot an die hiesigen Deutschen, auch wenn sie die Nachrichten auch auf Rumänisch lesen können. Die Bandbreite an Wortschatz, die eine Tageszeitung bietet, hilft beim Bewahren der Muttersprache. Ich stelle fest, dass viele Deutsche aus Rumänien auch bei sehr guten Sprachkenntnissen oft ein reduziertes Vokabular haben, weil sie im Alltag nicht mehr über alle Themen sprechen. Die ADZ hilft aber auch Entsandten, schnell, knapp und so sachlich wie möglich das Wichtigste über Rumänien auf Deutsch zu erfahren. Und sie ist ein Bindeglied für die ausgewanderten Deutschen nach Rumänien. Eine Tageszeitung hat – auch wenn sie wegen des frühen Redaktionsschlusses nicht immer topaktuell ist – eine ganz andere Dynamik als ein Wochenblatt.

Wer sind die ADZ-Leser heute?

Laut Umfrage: Altersklasse eher 50 aufwärts, doch über 60% Berufstätige, gefolgt von Rentnern. Rund 40% Rumäniendeutsche, 5% Entsandte, 20% aus dem Ausland Zugewanderte plus Rückkehrer. Gelesen wird ungefähr zu gleichen Teilen aus Rumänien und aus Deutschland. Die Mehrheit liest aus allgemeinem Interesse an Rumänien und wegen der Nachrichten in deutscher Sprache. Einige wenige lesen sogar nur die ADZ.

Was hältst du von der „Politischen Korrektheit“ beim Verfassen von journalistischen Artikeln?

Es gibt gewisse Trends, denen man folgt, um niemanden zu beleidigen: z.B. dass man Roma nicht mehr Zigeuner nennt. Aber diese neue Mode aus Deutschland mit den Gendersternchen – ich finde, das geht hier gar nicht: In erster Linie, weil es das Lesen erschwert, den Sprachfluss zerstört, für Deutschlernende total verwirrend ist und die Hauptaltersklasse unseres Leserkreises bestimmt nicht daran gewöhnt ist. Außerdem meine ich, dass die separate Nennung der Geschlechter differenziert, wo eben KEIN Unterschied mehr gemacht werden sollte. Wichtig ist aber, was die Leser wollen, es ist ja nicht meine Zeitung. Sollte irgendwann die überwältige Mehrheit nach Gendersternchen verlangen – bitteschön!

Du bist seit 2021 offiziell ADZ-Chefredakteurin. Mit der Übernahme dieser neuen Leitungsfunktion sind zusätzliche Aufgaben, aber auch viel Verantwortung auf dich zu gekommen. Vermisst du etwas aus der Zeit, in der du „nur“ als Redakteurin unterwegs warst?

Ja, sehr! Mir fehlt die Freiheit, durchs Land zu fahren und „Geschichten einzusammeln“, oder einfach Reiseberichte zu schreiben, so wie früher. Ständig „brennt“ irgendwas in der Redaktion, es gibt personelle Engpässe, Termine, Verpflichtungen. So erstickt man manchmal in seinen Büroaufgaben oder halst sich selbst zu viel auf, weil man dieses und jenes auch wichtig findet. Aber ich habe mir vorgenommen, mindestens ein-zwei Mal im Jahr einen Anlass zu suchen, um raus zu kommen und wieder mehr „fürs Herz“ zu schreiben…

Journalist zu sein, bedeutet, mit Menschen zu arbeiten. Mit allen Menschen, gut oder schlecht gesinnte. Welche negativen Erfahrungen hast du in deinem Beruf gemacht? 

Keine, ehrlich – vielleicht warten die ja noch um die nächste Ecke? 

Und nun zur positiven Seite des Journalistenberufs: Welches wäre eines der besten Interviews, das du je führen durftest?

Es gibt kein einziges strahlendes Interview von mir! (lacht) Ich bevorzuge Reportagen, Essays, Berichte. Einer meiner Lieblingsartikel ist bis heute „Die Vertreibung des Holzes aus dem Paradies“ (5. März 2017) über die Maramuresch, zerrissen zwischen Tradition und Moderne. Er ist in der Zeit entstanden, als wir dort unser Haus gesucht haben – ein altes Holzhaus, dort ab- und nahe Bukarest, aber mitten in der Natur, wieder aufgebaut, wie im Dorfmuseum. Damals sprach ich mit vielen Menschen, die ihre traditionellen Häuser demolieren wollten, weil sie sich ihrer schämten. Weil sie etwas Modernes wollten, „cu etaj“, mit Stahl und Spiegelglas – als Prestigeobjekt, oft wohnten sie gar nicht darin! Für mich war das erschütternd, weil ich denke, dass man der traditionellen Maramuresch in ein-zwei Generationen bitter hinterherweinen wird. 

Wenn du mal nicht schreibst: Was machst du in deiner Freizeit am liebsten?

Alles, was kreativ ist: Basteln, Kochen, Malen, aus Wurzeln „Kunstwerke“ für den Garten schaffen… Reisen, einfach, muss nicht weit weg sein, Rumänien ist immer noch spannend. Schwimmen im eigenen Teich, mit Schildkröten und Fröschen. Gartenarbeit, meine beiden kleinen Kater im Schlepptau… Mit meinem Mann unterm Sternenhimmel philosophieren, Pläne schmieden für die nächsten 100 Jahre. Und ich liebe es, Glossen zu schreiben: über den Alltagswahnsinn und skurrile Erlebnisse im „Land der Geschichten“, wie ich Rumänien gerne nenne. Humor ist extrem wichtig!

Die ADZ feiert in diesem Jahr ihr 75. Jubiläum. Wie siehst du die ADZ in zehn Jahren?

Vielleicht bis dann elektronisch mit eigener Lese-App? Vielleicht automatisch übersetzt in alle Sprachen der Welt? Vielleicht mit erweitertem Leserkreis auf Moldau und Ukraine, wenn sich die Beziehungen Rumäniens dorthin intensivieren? Mit Sicherheit immer noch mit Fotoreportagen zu Sachsentreffen, Heimattagen, Kirchweih – mit vielen jungen Leuten, die die Spuren ihrer Ahnen neu entdecken. Mit Beiträgen „à la National Geographic“ zu Kultur und Kulturerbe der Deutschen und anderer nationaler Minderheiten in diesem „Mini-Europa“. Mit Artikeln, die begleiten, wie sich Siebenbürgen und ähnliche noch intakte rurale Kulturlandschaften nachhaltig entwickeln: energetisch grün, sozial gerecht, mit Bio-Landbau, offenen Landschaften, freien Tierherden und bunten Blumenwiesen, die es sonst nirgendwo mehr gibt, als l(i)ebenswerte Heimat, wo die jungen Leute bleiben – oder wohin sie gerne zurückkehren.
 

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