Nazi-Regisseur stand in Hamburg vor Gericht – unfassbares Urteil

Nazi-Regisseur stand in Hamburg vor Gericht – unfassbares Urteil

Die Mitglieder der berüchtigten Einsatzgruppen der SS, verantwortlich für Massenerschießungen in Polen und der Sowjetunion, haben ihn gesehen, die Wachmannschaften der Konzentrations- und Vernichtungslager ebenfalls. Ihnen allen wurde auf Anordnung von Reichsführer-SS Heinrich Himmler der Film „Jud Süß“ gezeigt. Warum Himmler das unbedingt wollte? Weil er wusste, dass den Männern das Morden danach viel leichter von der Hand gehen würde.

„Jud Süß“ ist der berüchtigtste Spielfilm des Nationalsozialismus. Wie kein zweiter Nazi-Propagandastreifen schafft er es, bei seinen Zuschauern einen abgrundtiefen Hass auf Juden zu erzeugen. Der Film schafft „die massenpsychologischen Voraussetzungen für Auschwitz“, wie es der SPD-Politiker Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, einmal formulierte. „Jud Süß“ ist so widerwärtig, dass er selbst heute, mehr als 80 Jahre danach, nur mit Sondergenehmigung und unter Einhaltung strenger Auflagen öffentlich gezeigt werden darf.

Der fürchterlichste Propagandafilm der Nazis: „Jud Süß“, der 1940 in die Kinos kommt, soll den Hass auf Juden anstacheln.
MOPO-Archiv

Der fürchterlichste Propagandafilm der Nazis: „Jud Süß“, der 1940 in die Kinos kommt, soll den Hass auf Juden anstacheln.

Veit Harlan, so heißt der Mann, der dieses Machwerk zu verantworten hat. Er ist der Lieblingsregisseur des Dritten Reiches. Kurz vor Kriegsende 1945 flieht er aus Berlin Richtung Westen, wohl weil er ahnt, was die Sowjets mit ihm machen werden, falls sie ihn erwischen. In Hamburg, wo er sich niederlässt, wird Harlan zwar angeklagt und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt, aber am Ende freigesprochen. Vor 60 Jahren, am 13. April 1964, stirbt er während eines Urlaubs auf Capri, ohne je etwas bereut, ohne je seine Schuld eingestanden zu haben.

Veit Harlan – des Teufels Regisseur heiratete eine Jüdin

Veit Harlan – des Teufels Regisseur. 1899 kommt er in Berlin zur Welt. Früh entdeckt er seine Liebe zur Schauspielerei. Nach dem Ersten Weltkrieg hat er Engagements in Berlin und in der Provinz, heiratet 1922 die Sängerin Dora Gerson, von der er sich aber schon 1924 wieder trennt. Als sie, die Jüdin, ihm viele Jahre später einen Brief schreibt und ihn bittet, sich für sie einzusetzen, antwortet er nicht einmal. Dora Gerson wird 1943 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet – zusammen mit ihrem zweiten Ehemann und den beiden Kindern. 

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Harlan, der in den 20er Jahren kurzzeitig Mitglied der SPD war, bekennt sich 1933 öffentlich zum Nationalsozialismus und macht Karriere unter den braunen Machthabern. Im Jahr 1939 heiratet er die Schauspielerin Kristina Söderbaum, mit der er zwei Söhne hat, Kristian und Caspar. Söderbaum spielt in vielen der meist melodramatischen Filme Harlans die Rolle der tragischen Selbstmörderin, sodass sie vom Publikum verspottet wird: Die Leute geben ihr den Spitznamen „Reichswasserleiche“.

Filmszene aus „Jud Süß“: Ferdinand Marian in der Titelrolle, Veit Harlans Frau Kristina Söderbaum als Vergewaltigungsopfer.
dpa

Filmszene aus „Jud Süß“: Ferdinand Marian in der Titelrolle, Veit Harlans Frau Kristina Söderbaum als Vergewaltigungsopfer

Seinen Durchbruch hat Veit Harlan, als sich Propagandaminister Joseph Goebbels 1937 für den mit völkischer Propaganda gewürzten Harlan-Film „Der Herrscher“ begeistert. Es handelt sich um eine sehr freie Verfilmung des Gerhart-Hauptmann-Dramas „Vor Sonnenuntergang“, das Harlan zu einer Hommage an das Führerprinzip umzustilisieren weiß: „Modern und nationalsozialistisch, so wie ich mir die Filme wünsche“, notiert Goebbels am 12. März 1937 in sein Tagebuch.

„Jud Süß“ ist ein entsetzliches Machwerk, der schlimmste Film der Nazi-Zeit

In seinem nächsten Film „Das unsterbliche Herz“, der 1939 in die Kinos kommt, profiliert sich Veit Harlan als geschickter Arrangeur aufwendiger Massenszenen. Goebbels spürt, dass dieser Regisseur genau der Richtige ist, um die Nazi-Allmachtsfantasien von der arischen Rasse kunstvoll auf Zelluloid zu bannen.

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Trotzdem ist für den Film „Jud Süß“ 1940 zunächst ein anderer Regisseur vorgesehen: Peter Paul Brauer, der Produktionschef der Terra Film, soll diese Aufgabe übernehmen. Doch Harlan interveniert, spricht persönlich bei Goebbels vor und kämpft wie ein Löwe darum, „Jud Süß“ inszenieren zu dürfen. Mit Erfolg: Goebbels gibt ihm den Auftrag, sagt ihm praktisch unbegrenzte Mittel zu. Um an genügend Darsteller zu kommen, besucht Harlan anschließend Nazi-Ghettos in Polen und Tschechien, um sich dort jüdische Komparsen auszusuchen. Dann beginnen die Dreharbeiten.

Propagandaminister Joseph Goebbels (l.) beglückwünscht im Ufa-Palast am Zoo in Berlin den Regisseur Veit Harlan (r.).
dpa

Propagandaminister Joseph Goebbels (l.) beglückwünscht im Ufa-Palast am Zoo in Berlin den Regisseur Veit Harlan (r.).

Der Film „Jud Süß“ basiert auf der Lebensgeschichte des Juden Joseph Süß Oppenheimer, der im 18. Jahrhundert als Ratgeber des württembergischen Herzogs Karl Alexander fungierte. Der Mann hat also tatsächlich gelebt. Allerdings wird er im Film völlig verzerrt als skrupelloser geld- und sexgieriger Machtmensch dargestellt, der am Ende auch noch Dorothea, eine junge „arische“ Frau, vergewaltigt und sie in den Selbstmord treibt  … „Totschlagen, totschlagen! Der Jude muss weg!“ fordert die aufgebrachte Masse daraufhin – eine Schlüsselszene des Films. Am Schluss wird der jämmerlich um sein Leben bettelnde Oppenheimer gehängt.

Joseph Goebbels ist begeistert: „Der erste wirklich antisemitische Film!“

Goebbels ist begeistert, als er den Streifen das erste Mal sieht: „Ist ausgezeichnet geworden!“, schreibt er in sein Tagebuch. „Der Film hat einen stürmischen Erfolg. Der Saal rast. So hatte ich es mir vorgestellt. Der erste wirklich antisemitische Film!“

Der Streifen, der bis 1944 von rund 20 Millionen Zuschauern gesehen wird, hat die gewünschte Wirkung: Der Geheimdienst SD meldet, dass es nach einer Aufführung in Berlin zu Protesten gekommen sei. Menschen hätten gerufen: „Vertreibt die Juden vom Kurfürstendamm! Raus mit den letzten Juden aus Deutschland!“

Der Hamburger Schriftsteller Ralph Giordano („Die Bertinis“), nach Nazi-Lesart ein „jüdischer Mischling“, schleicht sich in eine Filmvorführung und schreibt später: „Als nach dem Abspann das Licht anging, herrschte große Stille – als wären die Zuschauer gelähmt. Die Luft war schwer, die mörderische Wirkung des Films überwältigend präsent. So präsent, dass ich glaubte, mich nicht erheben zu können, ohne erkannt zu werden.“

Nach dem Krieg flieht Veit Harlan nach Hamburg und will wieder Filme drehen

Goebbels ist so glücklich über den Film, dass er Harlan 1943 anlässlich des 25-jährigen Ufa-Jubiläums mit einem Professorentitel auszeichnet. Welche Wertschätzung Harlan im Nazi-Reich erfährt, lässt sich auch daran ablesen, dass er von 1942 bis Kriegsende alle seine Filme, nämlich vier, in Agfacolor drehen darf – ein Filmmaterial, das damals sehr teuer und rar ist.

Bis zum Untergang des NS-Regimes arbeitet Harlan unbeirrt weiter. Noch Ende Januar 1945 stellt er unter größten Mühen den Ufa-Film „Kolberg“ fertig, der mit Produktionskosten von rund acht Millionen Reichsmark als teuerster Film des Dritten Reiches gilt. Darin geht es um den preußischen Major Gneisenau, der 1807 während einer Belagerung durch französische Truppen die pommersche Stadt Kolberg erfolgreich verteidigt. Ein Volk, das zusammensteht, kann auch einen übermächtigen Gegner besiegen – das ist die Propaganda-Botschaft, die von „Kolberg“ ausgeht.

Nachdem das Gericht ihn freigesprochen hat, tragen ihn seine Anhänger auf Schultern aus dem Gerichtsgebäude.
Bundesarchiv

Nachdem das Gericht ihn freigesprochen hat, tragen ihn seine Anhänger auf Schultern aus dem Gerichtsgebäude.

Bei Kriegsende flieht Veit Harlan nach Hamburg, wo es ihm zunächst trotz seiner Vergangenheit gelingt, von den Behörden eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ zu erhalten. Er wird als „politisch unbelastet“ eingestuft. Ein Skandal, den 1948 die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), eine NS-Opfer-Organisation, öffentlich anprangert. In den Hamburger Kammerspielen kommt es zu einem Vorfall, der Schlagzeilen macht: Veit Harlan und Kristina Söderbaum setzen sich eines Abends im Zuschauerraum in die erste Reihe, doch noch während der Vorstellung erteilt ihnen Ida Ehre, die jüdische Intendantin, lautstark Hausverbot.

Hamburgs Staatsanwaltschaft erhebt 1948 Anklage gegen Veit Harlan. Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Noch nie zuvor wurde ein Filmschaffender für die Wirkung, die ein Film auf das Publikum hat, angeklagt. Am 3. März 1949 beginnt der Prozess. Zahlreiche Zeugen werden vernommen, darunter einige jüdische Überlebende, die berichten, wie sehr „Jud Süß“ den Rassenhass der „arischen“ Bevölkerung angestachelt habe.

Hamburgs Staatsanwaltschaft klagt Harlan an – ein Nazi-Richter spricht ihn frei

Der Prozess gegen Harlan wird bundesweit mit großem Interesse verfolgt. Teile der Bevölkerung solidarisieren sich mit dem Angeklagten. Harlan wird zur Symbolfigur der „Ewiggestrigen“. Gleichzeitig haben Menschen, die als Belastungszeugen im Gerichtssaal auftreten, einiges auszuhalten. Sie werden auf der Straße oder im Gericht als „Judensau“ oder „Kommunistenschwein“ beschimpft. Als am Ende Landgerichtsrat Walter Tyrolf, der Vorsitzende Richter, den Angeklagten freispricht, jubeln die alten Nazis und tragen Harlan auf ihren Schultern aus dem Gericht.

Veit Harlan spaltet das Volk: Wenn Kinos seine Filme zeigen wollen, kommt es in den 50er Jahren häufig zu Protesten. Gegner und Anhänger prügeln sich manchmal sogar: Unser Foto zeigt eine Demonstration vor einem Kino in Frankfurt 1953. Der Harlan-Film „Unsterbliche Geliebte“ steht auf dem Programm.
dpa

Veit Harlan spaltet das Volk: Wenn Kinos seine Filme zeigen wollen, kommt es in den 50er Jahren häufig zu Protesten. Gegner und Anhänger prügeln sich manchmal sogar: Unser Foto zeigt eine Demonstration vor einem Kino in Frankfurt 1953. Der Harlan-Film „Unsterbliche Geliebte“ steht auf dem Programm.

Gegen den Freispruch legt die Staatsanwaltschaft Revision ein, jedoch hat die Anklage auch in der Neuverhandlung 1950 keine Chance – denn wieder führt Walter Tyrolf den Vorsitz, ein Richter mit tiefbrauner Vergangenheit, der während des Krieges als Staatsanwalt beim Hamburger Nazi-Sondergericht an etlichen Unrechtsurteilen mitgewirkt hat. Dass so einer Harlan nicht ins Zuchthaus steckt, liegt auf der Hand. Am 29. April 1950 wird der Angeklagte erneut freigesprochen. Diesmal  heißt es im Urteil, Harlan habe die Arbeit an „Jud Süß“ aus einem inneren Befehlsnotstand heraus begonnen.

Der Regisseur des Teufels fühlt sich nun rehabilitiert und versucht erneut, im Filmgeschäft Fuß zu fassen. Sein erster Nachkriegsfilm heißt „Unsterbliche Geliebte“ und soll im September 1950 auf der „Woche des deutschen Films“ in Hamburg gezeigt werden. Die Eröffnungsrede hält der sozialdemokratische Journalist Erich Lüth, damals Leiter der Staatlichen Pressestelle. Lüth, der entsetzt ist von Harlans Freispruch, nutzt die Gelegenheit und ruft öffentlich zum Boykott des Films auf, was einen jahrelangen Rechtsstreit nach sich zieht, der Folgen bis heute hat.

In seinem Boykottaufruf bezeichnet Lüth Harlan als einen „der wichtigsten Exponenten mörderischer Judenhetze“. „Harlans Wiederauftreten muss kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen und abklingendes Misstrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaues furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über diesen Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten.“

Harlan, die Domnick-Film-Produktion und der Herzog-Film-Verleih wehren sich, verklagen Erich Lüth – und bekommen zunächst recht. Nach Auffassung des Hamburger Landgerichts sind Lüths Äußerungen sittenwidrig. Eine einstweilige Verfügung wird verhängt. Sollte Lüth den Boykott-Aufruf wiederholen, droht ihm eine Strafe von 100.000 Mark – eine damals geradezu utopische Summe, die zeigt, auf welch existenzbedrohenden Meinungskampf sich Lüth da eingelassen hat.

Ruft 1950 zum Boykott der Harlan-Filme auf, was einen Rechtsstreit nach sich zieht: Erich Lüth, Chef der Staatlichen Pressestelle Hamburg
dpa

Ruft 1950 zum Boykott der Harlan-Filme auf, was einen Rechtsstreit nach sich zieht: Erich Lüth, Chef der Staatlichen Pressestelle Hamburg

Doch der Mann, der sich selbst einen „Querkopf“ nennt, gibt nicht auf, sondern geht einen Weg, den damals erst wenige beschritten haben: Er zieht vors Bundesverfassungsgericht, wo Lüths Klage allerdings jahrelang unbearbeitet liegen bleibt.

Unterdessen nimmt im ganzen Land der Protest gegen Veit Harlan und seine Filme zu. An den Universitäten und in der Kulturszene der deutschen Städte bilden sich sowohl Anti- als auch Pro-Harlan-Bewegungen. Die Angehörigen der beiden Richtungen stoßen heftig aufeinander. Ob in Hamburg, Stuttgart, Köln, München oder Frankfurt – vor und in den Kinos kommt es zu Protesten, manchmal sogar zu rüden Prügelszenen, wenn Harlan-Filme gezeigt werden sollen. 

Winkend stehen der Filmregisseur Veit Harlan (vorn), seine Ehefrau, die. schwedisch-deutsche Schauspielerin Kristina Söderbaum, und der Filmschauspieler Paul Miller am 2. September 1954 vor ihrem Abflug nach Japan auf einer Gangway auf dem Flughafen in München. Sie fliegen zu Dreharbeiten von Harlans Film „Verrat an Deutschland“.
dpa

Winkend stehen der Filmregisseur Veit Harlan (vorn), seine Ehefrau, die schwedisch-deutsche Schauspielerin Kristina Söderbaum, und der Filmschauspieler Paul Miller am 2. September 1954 vor ihrem Abflug nach Japan auf einer Gangway auf dem Flughafen in München. Sie fliegen zu Dreharbeiten von Harlans Film „Verrat an Deutschland“.

Es dauert sieben lange Jahre, bis das Bundesverfassungsgericht endlich sein Urteil spricht. Die Entscheidung, die die Verfassungsrichter treffen, ist wegweisend: Der Boykott-Aufruf müsse im Kontext von Lüths (kultur-)politischen Bestrebungen gesehen werden, den Ruf des deutschen Films wiederherzustellen. Die Entscheidung, seinem Boykott-Aufruf zu folgen, sei jedem Einzelnen frei überlassen gewesen. Das Urteil des Landgerichts Hamburg habe Lüths Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verletzt und sei daher verfassungswidrig und nichtig.

Erich Lüth gewinnt also. Eine epochale Entscheidung für die Meinungsfreiheit. Das Lüth-Urteil hat Justizgeschichte geschrieben.

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