Nur 18 statt hundert Jahre…

Nur 18 statt hundert Jahre…

Ein schönes und interessantes Buch, ein wichtiges Buch über Selma Merbaum und ihre siebenundfünfzig Gedichte. Vervollständigt und komplettiert hat die Autorin in dieser Biografie das kurze achtzehnjährige Leben der jungen Dichterin. Diese sehr prosaisch geschriebene Biografie passt zu den berührenden, ergreifenden Gedichten von Selma, dem Schulmädchen, in Czernowitz/Cernăuți. Marion Tauschwitzs Begegnung mit Selma Merbaum ist eine literarische. Selmas Gedichte interpretiert sie mit Begebenheiten und Begegnungen. Sehr spannend, teils vermutend mit fiktiven Gedanken erzählt die Autorin uns das bescheidene Leben der jungen Dichterin, die am Montag hundert Jahre geworden wäre.

Wunderbare literarische Darstellungen der Bukowiner Landschaft, die historischen Erklärungen dieses Landesteiles der einstigen Donaumonarchie am Rande der Ostkarpaten sind recherchiert an Ort und Stelle und geben keinen Zweifel. Marion Tauschwitz hat sich in die Landschaft begeben, die Stadt Czernowitz durchstreift, den Duft von damals aufgesogen, in unterschiedlichen Ländern und Archiven sorgfältig recherchiert, hat Zeitzeugen aufgespürt und erzählen lassen, die siebenundfünfzig Gedichte redigiert und Fehler korrigiert. Über das Leben von damals in der Vielvölkerstadt, der Stadt von Paul Celan, dem Cousin von Selma, der Stadt der deutschsprachigen jüdischen Lyriker und vom Leben der Selma Merbaum hat sie erfahren, schreibt über die Ängste, die Todesängste des Mädchens.  

Mit Selma und ihren Freunden aus der Zionistischen Jugendbewegung „trifft“ sich die Autorin im Cecinawald, begleitet sie ins Hofmann-Gymnasium und nach Hause in die Bilaergasse, später ins Todeslager nach Transnistrien. Sie, die Schülerin, schreibt heimlich Gedichte unter der Schulbank, die später nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Tod von Selma, quer durch Europa nach Israel gelangten und inzwischen zur Weltliteratur gehören. Iris Berben, die hochengagierte Schauspielerin und Künstlerin, hat ein Vorwort geschrieben und bei der Vorstellung des Buches in Berlin im Kultur-Kaufhaus Dussmann Gedichte von Selma Merbaum und Passagen aus dem neu erschienenen Buch einfühlsam gelesen. Ein Hochgenuss für den Zuhörer! 

Der Sturm

Steht ein Rosenstrauch in deinem Garten
und er ist noch gar nicht grün.
Und du kannst es kaum erwarten
daß die erste Knospe komme, zart und dünn
und daß sie verkünde neues Leben.
Wartest, wartest voller Angst und Beben –
Bis ein Morgen kommt – und sie ist da.

Selma Merbaum, die junge Protagonistin des vorliegenden Buches, wurde 1924 in Czernowitz geboren, der Vater Max starb, als sie einige Monate alt war. Die Mutter heiratete Leo Eisinger. Die deutsche Wehrmacht und die rumänischen Truppen besetzten 1941 Czernowitz und Selma kam mit der Mutter und dem Stiefvater ins Czernowitzer Ghetto und kurz darauf wurden sie nach Transnistrien in Arbeits- und Todeslager deportiert. Selma Merbaum starb im Dezember 1942 unter unmenschlichen Verhältnissen an Entkräftung und Typhus im Lager Michailowka, die Eltern wurden in einem anderen Lager erschossen.

Mit viel Fantasie ist Marion Tauschwitz durch das kurze Leben von Selma Merbaum gegangen, hat den Kreis geschlossen. Lesen Sie das exzellent geschriebene Buch, lesen Sie  die Liebesgedichte eines jungen Mädchens, lassen Sie sich von der Autorin in die Bukowina, ins alte Buchenland, verführen, durchstreifen Sie mit ihr das barocke Czernowitz. Lassen Sie sich von den kyrillischen Schriftzeichen nicht irritieren. 1944 wurde die deutsche Sprache die Sprache des Feindes. Nichts ist übrig geblieben, von der einst jüdischen Kultur, der deutschen Sprache und dem habsburgisch geprägten Leben, doch sehenswert ist dieser vergessene Teil Osteuropas allemal. 

Noch vor Jahren habe ich freudig geraten, nach Czernowitz/Cernăuți/Tscherniwzi in die berühmte Bukowina von einst zu reisen, um mit dem beschriebenen Buch von Marion Tauschwitz unter dem Arm in der ehemaligen Vielvölkerstadt die beschriebenen Spuren der inzwischen weltberühmten jüdischen Dichterin Selma Merbaum zu suchen. Seit 24. Februar 2022 ist Krieg in der Ukraine, doch Czernowitz liegt vierzig Kilometer nördlich der rumänischen Grenze und ist bislang von den üblichen Kriegsschrecklichkeiten, die im Land unentwegt stattfinden, verschont geblieben. Wollen Sie die Reise wagen? 

Im Jahr 2014 erscheint die erwähnte Selma-Merbaum-Biografie im Verlag zu Klampen zum 90. Geburtstag der Lyrikerin und wird begeistert aufgenommen. Zeitzeugen melden sich nach dem Lesen und erzählen der Autorin von ihren Erinnerungen an die damals sehr junge Selma. Margit Bartfeld-Feller, die Schulfreundin von Selma in Czernowitz, stirbt im Jahr 2019 mit 96 Jahren in Tel Aviv. Schwärmend berichtete sie stets beim Treffen in der Nordau über die liebenswerte, dichtende Freundin Selma. 

Am 5. Februar 2024 wurde in Czernowitz ein großes Fest gefeiert, als die Dichterin Selma Merbaum ihren 100. Geburtstag hätte feiern können. In Erinnerung und in Gedanken werden alle dabei sein, die ihre Gedichte kennen und lieben. Die erweiterte Neuauflage mit dem gleichen Titel vermittelt dem Leser das achtzehnjährige Leben der Lyrikerin und die sehnsuchtsvollen Gedichte pünktlich zum 100. 

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