Sharleen (33) aus Hamburg: Wie die Teufelsdroge mich fast getötet hätte

Sharleen (33) aus Hamburg: Wie die Teufelsdroge mich fast getötet hätte

Das Elend am Hauptbahnhof ist Wahlkampfthema – und eine Folge von Crack. Die Droge ist zerstörerischer als Heroin. Die Abhängigen verelenden erschreckend schnell. Sharleen B. (33) war jahrelang abhängig von der Kokain-Variante, lebte nur für den nächsten Kick, permanent auf der Jagd nach einem kurzen Moment des Wohlgefühls. Am Ende wog sie 29 Kilo, war mehr tot als lebendig. Und schaffte doch die Kehrtwende. Hier ist ihre Geschichte.

Nicht einschlafen. Bloß nicht einschlafen. Du weißt, was dann passiert. Die bleierne Schwere des Erwachens. Der Körper, der dich nicht tragen will. Das unbedingte Verlangen nach dem nächsten Kick. Du musst laufen. Immer weiter. Geld auftreiben. Crack besorgen. Steh auf. Da hinten ist der Dealer. Nur ein paar Meter. Da wartet das schnelle Glück.

Heute ist ein guter Tag. Zwar hängt die graue Wolkendecke hinter der Terrassentür ihres Zimmers schwer am Himmel. Doch die 33-jährige Sharleen ist voller Energie. Morgens hat sie darum gebeten, die Treppen und Flure putzen zu dürfen. Jetzt will sie die drei Pferde auf der Koppel besuchen. Schnell geht die junge Frau durch den gepflasterten Innenhof, vorbei an der dunkelroten Schwedenhütte, in der sie ab und an zum Rauchen sitzt. „Aber nur noch selten. Ich habe COPD.“ Wegen der chronischen Lungenerkrankung sei es in ihrem Zimmer auch so kalt, die Heizung immer aus. „Nicht, dass ich nachts ersticke.“

Seit fünf Monaten lebt Sharleen nahe der Ostsee, um wieder ins Leben zu finden

Sharleen schnalzt mit der Zunge. Sie versucht es erneut. Ein leises Zischen. Vor Kurzem hat sie ein Gebiss bekommen. Sie muss sich noch daran gewöhnen, das Sprechen fällt ihr schwer – nach Jahren ohne Zähne, die ihr die Sucht genommen hat. Doch Jurek hat sie gehört. Er hebt den Kopf und kommt angetrottet. Sharleen streckt ihm lachend die Arme entgegen. „Na, mein Großer. Egal wie weit weg du stehst, du kommst immer zu mir“, sagt sie glücklich und legt die Hand auf den Kopf des Pferdes. So stehen sie da.

In fünf Tagen ist es wieder so weit. Da kommt sie zum Reiten. Immer montags. Das hilft ihr nicht nur, sich abzulenken. Auch ihr steifes linkes Bein wird so beweglicher. „Bald wollen wir einen Ausritt zum Strand machen“, sagt Sharleen auf dem Rückweg zum Haus. Seit fünf Monaten ist das weiß verklinkerte Gebäude mit den Gauben und Sprossenfenstern nahe der Ostsee ihr Zuhause. Das „Haus Hasselberg“ der „Brücke SH“, eine Einrichtung für Suchtkranke, um wieder ins Leben zu finden. Knapp 160 Kilometer entfernt von der Zeit am Hamburger Hauptbahnhof, an die sie am liebsten gar nicht mehr denken möchte. Viele Erinnerungen sind im Nebel des Rausches verblasst oder verloren gegangen. Doch manche finden immer wieder ihren Weg.

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Wie Kidneybohnen. Bei deren Anblick sieht Sharleen sich wieder als Siebenjährige im Supermarkt vor den Dosen stehen. Sie weiß: Die Bohnen sind günstig, man kann sie auch kalt essen und sie machen satt. Also gibt es häufig Kidneybohnen. „Heute kann ich die Dinger nicht mehr sehen. Ekelhaft. Igitt“, sagt Sharleen und lacht. Eine tiefe, kehlige Lache. Damals hatte sie keine Wahl. Sie musste einkaufen, putzen, kochen, Wäsche waschen, die Unterschrift der Mutter fälschen. „Ich habe schon in der ersten Klasse alle Aufgaben übernommen, die meine Mutter hätte machen müssen.“ Sie habe es für ihren kleinen Bruder getan. Er war vier Jahre jünger als sie.

Der große Halbbruder und die Halbschwester lebten nicht bei ihnen in der Wohnung in Wilhelmsburg. Den Vater gab es nicht. Die Mutter eigentlich auch nicht. „Sie hat getrunken, Fernsehen geguckt und auf dem Sofa geschlafen. Ihr war alles scheißegal.“ Das Einzige, was sie immer hinbekommen habe, sei der Weg zum Kiosk gewesen. Schnaps kaufen. Sharleen klaute Geld, wo sie konnte, um sich und ihren Bruder durchzubringen. Von der Mutter, Eltern der Freundinnen, in der Schule. Niemand sah die Not der Kinder. Niemand wollte sie sehen.

Es dauerte nur wenige Tage, da war ihr erster Gedanke am Morgen Crack

Mit 16 Jahren, als sie nach der Realschule gerade in der Ausbildung zur Friseurin steckte, habe sich ihr kleiner Bruder vor sie gestellt. „Ich möchte, dass du gehst. Du hast dich lange genug gekümmert.“ Er habe gelacht und gesagt: „Ich kann keine Bohnen mehr sehen.“ Sharleen sorgte dafür, dass ihr Halbbruder kommt und ihren kleinen Bruder mitnimmt. Sie packte eine Tasche und verließ ihr altes Leben.

Das erste Mal vertraute sich Sharleen einem Menschen an. Einer Freundin, die eine eigene Wohnung hatte. Damit es ihr besser geht und sie mal entspannen kann, bot ihr die Freundin Crack an. Sharleen zog an der Pfeife. Das erste Mal, dass sie irgendeine Droge probiert habe. Sie erinnert sich, wie wach und stark sie sich fühlte. Allerdings nur kurz. Danach kam eine Erschöpfung, die sie nie zuvor erlebt hatte. „Nichts ging mehr. Wie ein Auto ohne Benzin.“ Um sich wieder gut zu fühlen, nahm sie erneut Crack. Es habe nur kurz gedauert, wenige Tage, da sei ihr erster Gedanke am Morgen die Droge gewesen. „Das war schnell Routine. Es ist wie morgens aufstehen und zur Arbeit fahren.“

Sharleen liebt die Pferde der Einrichtung und besucht sie häufig.
Wiebke Bromberg

Sharleen liebt die Pferde der Einrichtung und besucht sie häufig.

Als sie kurz darauf beim Crack-Kaufen erwischt wurde, schaltete sich das Jugendamt ein. Sharleen kam in Einrichtungen. Erst nach Bayern, dann auf die Veddel. Sie haute ab und fuhr zum Hauptbahnhof, um sich Crack zu besorgen. „Ich musste nicht mal fragen. Die Dealer haben mich gefragt.“ Mehrere Tage hing sie am Hauptbahnhof mit anderen Drogenabhängigen rum, schlief zwischendurch im Sitzen. Auch Heroin probierte sie. „Aber niemals gespritzt. Ich habe Angst vor Nadeln. Da bin ich wie ein Baby.“ Sharleen ging dann mal wieder in ihre Einrichtung, haute wieder ab. Sie flog raus. Es folgten mehrere andere Einrichtungen. Immer wieder abhauen. Immer wieder Crack. Wie lange das so ging? Sharleen weiß es nicht mehr.

Irgendwann gab es nur noch den Hauptbahnhof. Nur noch Crack. Kurze Momente, in denen sie sich hellwach und stark fühlte, wenn die Kristallkörner aus Kokainsalz und Natron in der Pfeife knackten. Wie lange, weiß Sharleen nicht mehr. Experten sprechen von zehn bis 15 Minuten. Sie vermutet, dass nach zwei Stunden die Panik kam. Gleich würde die Schwere beginnen. Der Körper von Minute zu Minute schwächer werden. Sie musste weiter. Stoff besorgen.

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Sharleen hetzte durch die Innenstadt, um Geld aufzutreiben. „Prostituiert habe ich mich nie. Aber ich verurteile die Frauen auch nicht, die das machen.“ Sharleen kundschaftete Geschäfte aus, kam dann wieder, um zu klauen. Jeden Tag. Immer zur Mittagszeit. „Da wird nicht gut aufgepasst. Viele machen Pause.“ Sie vertickte das Diebesgut. Klamotten und Handys liefen gut, Schuhe und Parfums auch. Erwischt worden sei sie nie. Sharleen grinst. Die neuen Zähne strahlend weiß. „Ich war schlau“, sagt sie. Sharleen hatte das Futter ihrer Jacke aufgetrennt. „Ich habe die Sachen da reingestopft. Immer nur wenig, damit man es von außen nicht sieht.“

Die geklauten Sachen brachten genug Geld für ihre Sucht. Etwa 150 Euro brauchte sie am Tag – für 30 Portionen Crack, sie selber nennt sie „Köpfe“. Sie schlief nur selten. Zu groß die Angst vor dem Erwachen ohne die Droge. Drei oder vier Tage konnte sie am Stück wach bleiben. Wie ihre Tage aussahen? Sie zuckt die Schultern. „Immer gleich. Man sitzt, nimmt Crack, unterhält sich, nimmt Crack, geht klauen, kauft Crack, nimmt Crack.“ Zwischendurch ging sie in Einrichtungen, holte sich Essen, duschte, manchmal bekam sie auch ein Zimmer. Freunde hatte sie in all den Jahren auf der Straße nicht. Es gebe eine eiserne Regel: „Vertraue niemandem. Niemals. Alle beklauen, bescheißen und verraten dich. Jeder denkt nur an sich.“ Du auch? Sharleen blickt traurig auf ihre Hände im Schoß. „Ja, leider“, sagt sie mit leiser Stimme. Alles sei ihr scheißegal gewesen. „Ich habe gar nichts mehr mitbekommen.“

Die Leiterin der „Mobilen Bullysuppenküche“ war Sharleens Rettung

Vor sechs Jahren, an einem Tag wie jedem anderen, saß sie in einer Ecke beim „Drob Inn“ hinterm Hauptbahnhof, als ihr jemand die Decke wegzog. Es war Julia Radojkovic, Gründerin der „Mobilen Bullysuppenküche“, einer Einrichtung auf St. Pauli, die sich seit zehn Jahren um Bedürftige kümmert. „Ich wollte sehen, ob sie noch lebt“, sagt die engagierte Frau. Sie gab ihr einen Tee. Sharleen lächelt. „Irgendwie hatte ich gleich Vertrauen.“ Julia war es, die ihr half, vom Crack wegzukommen. Noch am selben Tag brachte sie sie ins Krankenhaus. „Es ging ihr richtig schlecht. Es war ganz traurig, sie so zu sehen.“ Die Zähne ausgefallen, die Stimme kaum wahrnehmbar, der Körper ausgemergelt. Sharleen wog gerade noch 29 Kilo.

Mehrere Wochen lag sie auf der Intensivstation, wurde künstlich ernährt. Die Besuche von Julia nahm sie nicht wahr. „Ich fühlte mich wie ein Zombie.“ Danach kam sie in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Ganz langsam kehrte das Leben zurück. Sharleen wurde auf Tabletten eingestellt. Sie bekam Antibiotika, Morphium, Schlaftabletten, und 16 Milliliter Methadon. Da es für Crack kein Substitut gibt, musste sie die Ersatzdroge für Heroin nehmen. Auch Psychopharmaka bekam Sharleen. Gegen die Stimmen in ihrem Kopf. Was für Stimmen das waren – daran möchte sie nicht mehr denken. „Stimmen, die einem sagen, was man machen soll. Aber das ist Vergangenheit. Abgeschlossen.“ Es folgten etliche offene Abteilungen der Psychiatrie. Mehr als ein Jahr lang war sie da, bevor sie in eine Einrichtung zog, in der sie zurück in ein selbstbestimmtes Leben finden sollte.

Doch ihr Weg endete am Hauptbahnhof. „Wenn du klar bist, kommen die Erinnerungen an früher wieder. An deine Kindheit. Du willst das betäuben und denkst, du brauchst das Crack.“ Danach schaffte sie noch einmal den Absprung. Wieder rang sie mit dem Tod. Wieder Klinik und Medikamente, wieder mehr als ein Jahr ohne die Droge. Und wieder wurde sie rückfällig. Dreimal ist Sharleen den Weg bereits gegangen. Warum sie glaubt, es dieses Mal zu schaffen? Sharleen sitzt auf ihrem hellen Holzbett. An der Wand eine selbstbemalte Leinwand. „Mein neues Leben“ steht in schwarzen Buchstaben neben einer Blume und zehn Herzen. Die junge Frau denkt nach, legt den Kopf schräg. „Ich habe wieder Gefühle. Das war vorher nicht so. Hier fühle ich mich endlich geborgen.“

Viele ihrer Bekannten sind mittlerweile gestorben. Zuletzt die „tanzende Jessy“. Sharleen weiß, wie knapp es auch für sie war. Sie ist glücklich, es geschafft zu haben, hat keine Schmerzen und muss nur noch 1,5 Milliliter Methadon nehmen. Die 33-Jährige träumt von einem eigenen Friseur-Salon. Sie will nicht mehr an früher denken. „Meine Vergangenheit ist vorbei. Die Drogensucht wird immer bleiben, das weiß ich. Aber es kommt darauf an, was du selber daraus machst. Du kannst entscheiden.“

Info: Crack – so wirkt die zerstörerische Droge

Crack ist billig, einfach herzustellen und leicht zu bekommen. Eine stark süchtig machende, zerstörerische Droge – die sich immer weiter ausbreitet.

Crack ist chemisch verändertes Kokain. Konsumenten erhitzen das weiße Pulver mit Natron und Wasser auf einem Löffel. Es bleiben rosa bis weiß-gelbliche Kristallkörner zurück, auch „Steine“ oder „Rocks“ genannt, die beim Rauchen in der Pfeife knacken. Daher der Name. Kokain aus Südamerika überschwemmt derzeit den Schwarzmarkt. Die Droge ist jederzeit erhältlich. Es werden auch fertige „Steine“ verkauft. Der Rausch ist billig: Ein „Stein“ kostet fünf bis zehn Euro.

Beim Rauchen flutet Crack nach wenigen Sekunden den Körper. Glückshormone werden ausgeschüttet. Der Konsument fühlt sich stark, wach, euphorisch und konzentriert. Doch der Rausch ist kurz – etwa zehn bis 15 Minuten. Danach können die Konsumenten aggressiv, niedergeschlagen oder panisch werden. Sie verspüren das unbedingte Verlangen nach der nächsten Dosis und hetzen los. Da sie sich permanent auf der Jagd nach dem nächsten Kick befinden, vergessen viele zu trinken, zu schlafen, zu essen oder sich um ihre Hygiene zu kümmern. Die Verelendung, der körperliche Verfall sind bei vielen massiv.

Ein Substitut gibt es nicht für Crack

Das Verlangen nach Crack, der Suchtdruck, kann laut aktuellen Studien durch Medikamente gedrosselt werden. Es gibt erste Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit von medizinischem Cannabis und anderen psychoaktiven Substanzen wie Amphetaminen und Ketamin. Ein Substitut wie bei Heroin die Ersatzdroge Methadon gibt es nicht für Crack. Aufgrund der aktuellen Entwicklung soll es ein Forschungsprojekt geben, um geeignete Substanzen zu finden. Durch das scheinbar unstillbare Verlangen, auch „Craving“ genannt, besteht für die Abhängigen ein sehr großes Rückfallrisiko.

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Crack macht schnell abhängig und kann Herzrhythmusstörungen auslösen, die zum Herzstillstand führen können. Die Schleimhäute werden schlechter durchblutet, es kommt zu Hautjucken und in der Folge zu Kratzverletzungen, die sich entzünden können. Auch Krampfanfälle, Kreislaufzusammenbrüche, Angststörungen, Verwirrtheit, Depressionen und Wahnvorstellungen können auftreten. Des Weiteren führt der Konsum zur Schädigung der Lunge.

Crack wird durch permanente Verfügbarkeit und den Preis insbesondere in westdeutschen Städten zunehmend zum Problem. In Hamburg und Frankfurt ist der Konsum bereits länger verbreitet. In Berlin und in den westlichen und nördlichen Bundesländern ist die Entwicklung neu.

Sharleen (33) aus Hamburg: Wie die Teufelsdroge mich fast getötet hätte wurde gefunden bei mopo.de

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