Neues Leben in Pinneberg: Familie Arol will nach Hause – kann aber nicht

Neues Leben in Pinneberg: Familie Arol will nach Hause – kann aber nicht

Tausende Menschen flüchteten seit dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 aus der Türkei nach Deutschland. Doch eine Chance auf ein dauerhaftes Leben hier hat kaum jemand. Wer sind die Menschen, die da kommen? Warum verlassen sie ihre Heimat und was erhoffen sie sich bei uns? Die MOPO hat eine Familie getroffen, die zwischen zwei Welten verloren geht.

Die Narbe zieht sich über seine gesamte rechte Hand – und wird Yusuf sein Leben lang daran erinnern, dass er um ein Haar lebendig begraben worden wäre. Der 14-Jährige, seine zwei Brüder und die Eltern sind nach dem schlimmen Erdbeben in der Türkei am 6. Februar vergangenen Jahres nach Hamburg gekommen. Sie würden so gerne zurück nach Hause. Doch da ist nichts mehr.

Auf dem Sofa ihrer kleinen Dachgeschosswohnung in Thesdorf (Kreis Pinneberg) zückt Mutter Gülsüm Arol (39) ihr Handy und zeigt ein Video von dem, was einmal ihr Haus in Hatay war. Zu sehen ist – nichts. Ein riesiges, leeres Feld. Am Boden Trümmerteile, darüber blauer Himmel. Am Horizont Ruinen.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien machte Millionen Menschen obdachlos

Es sind Bilder einer Apokalypse. Mehr als 50.000 Menschen waren bei dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien ums Leben gekommen. 2,4 Millionen Menschen wurden allein in der Türkei obdachlos. Darunter auch die Familie Arol.

„Wir wurden morgens um 4.17 Uhr von dem Beben geweckt. Die Wände wackelten. Wir sind mit unserem jüngsten Sohn schnell nach draußen gelaufen. Yusuf und sein großer Bruder Baran waren bei den Großeltern“, erzählt Gülsüm Arol. Draußen sahen sie, wie bei den Nachbeben ihr fünfstöckiges Haus in sich zusammenfiel und alles zerstörte, was sie je besaßen. Dann kam der Anruf.

Ein Feld aus Steinen – das ist alles, was von dem haus der Familie Arol in Hatay übrig geblieben ist.
hfr

Ein Feld aus Steinen – das ist alles, was vom Haus der Familie Arol in Hatay übrig geblieben ist.

Auch das Haus der Großeltern war eingestürzt. Man wusste nicht, wo Yusuf und die Oma sind. Ob sie es noch nach draußen geschafft haben oder nicht. „Wir sind hingerannt“, sagt Vater Aykut (47). Doch auch dort waren nur Trümmer. Es war dunkel. Überall Schreie.

Verschütteter Junge: „Ich rief meine Eltern, aber sie hörten mich nicht“

„Ich habe meine Eltern oben gehört und laut nach ihnen gerufen. Aber niemand hat mich gehört“, erinnert sich Yusuf mit stockender Stimme. Stundenlang ging das so. Die Eltern riefen „Yusuf!!!“ Der Junge schrie verzweifelt zurück. Doch ein Kontakt kam nicht zustande.

„Auf meiner Hand lag eine Kommode. Ich war eingeklemmt und konnte mich nicht bewegen“, erzählt Yusuf. Erst nach einer gefühlten halben Ewigkeit vernahmen die Eltern mit einem Mal die Stimme ihres Sohnes – und begannen zu graben. Mit bloßen Händen. „Es gibt keine Hilfe in so einer Situation“, sagt Vater Aykut. „Da ist nur Chaos.“

Nach anderthalb Stunden befreiten Aykut und seine Frau Gülsüms Mutter aus dem Schutt. Erst nach neun Stunden konnten sie auch Yusuf bergen. „Wir haben immer wieder gerufen, dass wir da sind und ihn holen“, sagt die Mutter. Der Junge sei schwer traumatisiert.

Erdbeben in der Türkei: Familie Arol aus Hatay hat alles verloren

Um sich von dem Schock zu erholen, kamen die Arols nach einem halben Jahr, in dem sie in einem Zelt untergebracht waren, nach Hamburg, wo zwei Brüder von Gülsüm leben. Sie bekamen ein Visum für Erdbebenopfer. Es gilt nur drei Monate und wurde bisher zweimal verlängert. Ob es noch einmal klappt, steht in den Sternen. Die Eltern wissen nicht mehr ein noch aus.

Aus diesen Trümmern zogen die verzweifelten Eltern nach neun Stunden ihren Sohn Yusuf (14).
hfr

Aus diesen Trümmern zogen die verzweifelten Eltern nach neun Stunden ihren Sohn Yusuf (14).

„Wir haben alles verloren“, sagt Vater Aykut. Ihr Zuhause, ihr ganzes Hab und Gut. Aykuts Firma, ein Vertriebsunternehmen, gibt es nicht mehr. Es gibt keine Schulen, keine Krankenhäuser, keine Häuser, in die man einziehen könnte. Noch immer leben mehr als 700.000 Menschen in Containern.

„Ich vermisse meine Heimat, meine Mutter und würde am liebsten sofort zurück gehen“, sagt Gülsüm. Doch die Kinder, die inzwischen in Pinneberg zur Schule gehen, wollen nicht. Und: „Wir können ihnen daheim nichts bieten. Es gibt kein normales Leben in Hatay.“

Familie Arol würde gerne nach Hause zurückkehren – doch dort gibt es nichts mehr

Doch auch in Deutschland ist es nicht einfach. Anders als Ukrainer oder Syrer bekommen die Erdbebenopfer aus der Türkei keine Unterstützung, weil die Republik ein sicheres Herkunftsland ist. Die Familie Arol ist komplett auf Gülsüms Brüder angewiesen. Um sich wenigstens zu beschäftigen, hat Gülsüm kürzlich ein Praktikum in einem Pflegeheim gemacht. Der Leiter wollte sie sofort einstellen und hat ihr einen Arbeitsvertrag vorgelegt.

„Ich würde das so gerne machen, um meine Brüder zu entlasten“, sagt Gülsüm. Auch Aykut würde jeden Job annehmen. Aber es gibt keine Chance. Für die Erdbebenopfer aus der Türkei gibt es keine Arbeitserlaubnis.

Die Fraktionschefin der Hamburger Linken, Cansu Özdemir, die zahlreiche Verwandte bei dem Erdbeben verloren hat, machen solche Schicksale wie das der Familie Arol betroffen. „Die Familie könnte einen Asylantrag stellen“, meint Özdemir. Allerdings hätte der wohl kaum Aussicht auf Erfolg, weil die Anerkennungsquote für Anträge türkischer Staatsbürger nicht sehr hoch sei.

Trotzdem versuchen viele diesen Weg zu gehen: Die Türkei ist mit Syrien und Afghanistan mittlerweile eines der Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern. Doch nur etwa jeder sechste Antrag wird anerkannt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat bereits im direkten Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan die Rücknahme der abgelehnten Fälle angemahnt.

Linken-Chefin in Hamburg fordert Perspektive für die Erdbebenopfer

Die einzige Chance für Familie Arol wäre aus Sicht von Özdemir ein Arbeitsvisum, doch dabei käme es immer sehr auf die Qualifizierung an. Gülsüm Arol ist keine ausgebildete Pflegerin. Die frühere Verwaltungsfachkraft könnte die Ausbildung aber noch nachholen. „Angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland wäre es sinnvoll, die Verfahren zu vereinfachen”, so Özdemir. „Man muss doch eine Perspektive für diese Menschen entwickeln.“

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Wie eine solche Perspektive aussehen könnte – das wissen die Arols derzeit überhaupt nicht. Denn auch der türkische Staat wird seiner Verantwortung nicht gerecht: Er zahlt den Erdbebenopfern, die im Land geblieben sind, pro Monat 5000 Lira (150 Euro). „Davon könnten wir nicht mal die Miete bezahlen, wenn wir in eine vom Erdbeben verschonte Stadt in der Türkei ziehen würden“, sagt Aykut.

„Wir wussten nicht, was ein Erdbeben wirklich bedeutet. Fernsehbilder bilden nicht ab, was für ein Horror das ist. Man begreift es erst, wenn es einem selbst passiert. Wir hatten ein schönes Leben früher. Es ist von einer Minute auf die nächste zerstört worden. Das kann man nie wieder vergessen.“

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