Verhängnisvolle Fäden zwischen Zürich und Czernowitz

Verhängnisvolle Fäden zwischen Zürich und Czernowitz

31. Oktober 1944: Ein junger österreichischer Soldat, unschuldig als angeblicher Deserteur verurteilt, entkommt seiner eigenen Hinrichtung. Mithilfe seiner Tante, liiert mit einem berüchtigten Dokumentenfälscher, gelingt es ihm, in die neutrale Schweiz zu fliehen. Gerettet! – Oder fängt der Albtraum erst jetzt an?

Paul Wegner soll bald erkennen: Er hat sich zu früh gefreut, als man ihm gleich nach der Ankunft mitteilte, er möge sich des falschen Passes so schnell wie möglich entledigen und sich den Behörden unter seinem richtigen Namen melden. Wer in der Schweiz mit gefälschten Dokumenten erwischt wird, wird sofort abgeschoben! Ein seltsamer Unfall vereitelt dieses Vorhaben beinahe, doch es gelingt: Der verfängliche Pass, der auf den Namen Wido Floor, geboren im fernen Czernowitz/Cern²u]i lautet, ist bei einem Freund, vergeblich filzen die Schweizer Beamten seine Stube in der Fremdenpension, sein Gepäck, seine Kleider – ist da nicht etwas in der Manteltasche, sagt der eine? Ach, das ist bloß mein Füller, der muss durch ein Loch ins Futter gerutscht sein, meint arglos Paul. Erst später, als er den Stift befreit, läuft es ihm kalt über den Rücken. Es ist ein teurer, vergoldeter Füllfederhalter mit einer Inschrift, einer Widmung: Wido Floor! 

Erst langsam, ganz langsam tröpfelt es in sein Bewusstsein: Er trägt auch die Kleidung dieses Wido Floor – des angeblichen toten Soldaten, von denen der Gefährte der Tante die Dokumente gehabt haben wollte… Trenchcoat und Melone, die Kleidung eines feinen Herrn! Und auch der Unfall war kein Zufall, genauso wenig wie die seltsame Reaktion des Zöllners an der Grenze, über die er geschleust worden war, als dieser seinen Namen notierte. Der Verdacht verhärtet sich: Wido Floor ist am Leben. Und Paul Wegner soll jemanden von dessen Spur ablenken – und zwar auf sich. 

Doch wer ist dieser Wido Floor?  Und wer der geheimnisvolle Mann mit den grauen Haaren und der Mappe, der ihn in Zürich auf der Straße niedergeschlagen hat? Wer das Mädchen, das ihn begleitete? Wer die geheimnisvolle rothaarige Frau? Juden, angeblich. Sie alle stehen in irgendeiner Beziehung zu Wido Floor, soll Paul nach und nach erfahren. Und dies bringt ihn selber in höchste Gefahr!

Wem kann man trauen? Wer versteckt sich vor wem und wovor? Langsam kommt Paul seinem Doppelgänger auf die Spur. Sie führt ins Czernowitz des Ersten Weltkriegs, zum Zeitpunkt des Einmarschs der Russen, als ein dreijähriges Kind jauchzend auf das Pferd des den Triumphzug anführenden Offiziers gehoben wird, daneben sein verzweifelt herlaufender Vater… 

Schritt für Schritt gelingt es Paul, das Beziehungsgeflecht zu entwirren: die schöne Tereza aus der rumänischen Bukowina, ein gefallenes Mädchen, Heirat aus Verzweiflung… das resolute Waisenmädchen Marie, das dem Knirps, der dem Juden unflätig in den Hut spuckt, gehörig die Leviten liest. Der lebenslange Hass eines Jungen auf seinen neuen Stiefvater. Der Schock eines Nazi-Konzentrationslagerführers, als er erkennen muss, sein Vater ist nicht der noble Arzt aus Bistritz, dessen Vor- und Nachnamen er trägt, sondern – ein Jude. Die spannende Flucht eines Mannes aus dem KZ, bevor ihn die Dunkelheit vollends umnächtet. Die verhängnisvolle Liebe eines halbjüdischen Mädchens zu Wido Floor. Und immer wieder Czernowitz, die Stadt in der Bukowina, die mal von den Russen, mal von den Rumänen erobert und rückerobert wird. 

Paul lässt sich leiten von geheimnisvollen Fäden, die ihn immer tiefer in die bizarre Welt dieses Wido Floor verstricken – und es ist nicht nur seine eigene verzwickte Lage, sondern auch die faszinierende junge Lidia, die ihn dazu motiviert.

Mit „Nachtfalters Tagtraum“ ist Erhard Stocker ein mitreißender Roman gelungen, der tiefe Einblicke in die Verfolgung der Juden in der Nazizeit – „bis in den finsteren Winkel des damaligen Europas“, so der Klappentext – gewährt. Bis tief in die geteilte Bukowina, Transnistrien, die Ukraine… und immer wieder Czernowitz. 
 

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