„Ein Sehnen nach Menschen“. Selma Merbaum aus „Stefan Zweig“

„Ein Sehnen nach Menschen“. Selma Merbaum aus „Stefan Zweig“

Zur Kolumne „Hinterfragt“ vom 13. Februar 2024 über den Namenszwist in Bezug auf die in Czernowitz/Cern˛u]i geborene jüdische Dichterin Selma Me(e)rbaum(-Eisinger) hat sich eine überraschende Wendung ergeben: Der korrekte Name ist offenbar doch Merbaum mit einem „e“ – und auf jeden Fall ohne „Eisinger“! 

Marion Tauschwitz, die Autorin des Buches „Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt, zuende zu schreiben“, hat sich bei der ADZ gemeldet und die Kopien mehrerer Unterlagen (Schulzeugnisse 1934/35 und 1938/39, Hochzeitsregistereintrag der Eltern, Namensverzeichnis von Czernowitz von 1914) beigefügt, aus denen der Name „Merbaum“ hervorgeht. 

Daraufhin entspann sich erst eine lebhafte Korrespondenz – und nachdem die Autorin mir ihr Buch zugesandt hatte, ein langes Telefongespräch: Von der Frage, wie und warum manche Wissenschaftler und Verlage hartnäckig an falschen Daten festhalten, obwohl sie über die neuen Erkenntnisse informiert sind, über die Art und Weise, wie die Biografin an Details aus Selmas Leben gelangte, die diese Biografie so lebendig gestalten, bis hin zu völlig neuen Aspekten, die aus der bisher als naives, romantisches Mädchen dargestellten kleinen Cousine von Paul Celan eine politisch engagierte, kritische junge Frau mit einem warmen Herzen, moralischen Werten und einer großen Liebe zur Natur entstehen ließen– ein ganz neues Bild! Aber auch davon, wie die Autorin, ehemalige Gymnasiallehrerin und Dozentin, ihr Werk über die mit nur 18 Jahren im Lager Mihailowka (Transnistrien) umgekommene Selma Merbaum zur Aufklärung über den Holocaust verwendet.

Die Quintessenz ihrer Biografie ist jedenfalls keine kleingeistige Namensdiskussion (zur Klarstellung des Namens siehe Kasten), resümiert die Autorin: „Ich zolle einem Leben und Werk Respekt. Möchte, dass es unverlierbar bleibt. Möchte die Flamme der Erinnerung am Brennen halten und nicht die Asche bewahren.“

Frau Tauschwitz, Ihre Biografie von Selma Merbaum ist ungewöhnlich intensiv. Mich haben nach der Lektüre ein ganzes Wochenende lang die Gedanken daran verfolgt… Sie beschreiben sogar das schwüle Wetter an dem Tag, als die Russen in Czernowitz einmarschierten, oder ganz konkrete Zustände, Begegnungen und Gespräche aus den Lagern…

Ja, das ist immer die Gratwanderung, wie intensiv eine Autorin auf dieses Leid eingeht? Wenn ich es nur sachlich abhandele, dann ist jeder Tote eine bloße Nummer. Aber ich möchte ja die Anonymität des Holocaust auflösen und den Menschen Namen und Gesichter und Identitäten geben. Ich bin auch immer wieder erstaunt, wie berührt Schüler sind, wenn ich von Selma Merbaum erzähle. Die erkennen dann betroffen: Sie war ja genauso alt wie wir! Da kann man die Schüler abholen und ihnen dann auch die Modernität der Gedichte vermitteln, sie an Lyrik heranführen.  Ich habe z.B. einen Schüler gefragt: Kannst du rappen? Er hat es dann versucht mit Selmas Gedicht „Stefan Zweig“, das ja von seiner Sprachmelodie ein Rap ist – und schon war das Eis gebrochen.

Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Buch nicht nur wegen des jugendlichen Alters der Dichterin, sondern auch wegen des geografischen Raums, dem damals (zeitweise) rumänischen Czernowitz, auch hierzulande für den in den Schulen inzwischen obligatorischen Holocaust-Unterricht besonders gut geeignet wäre.  Zumindest in den hiesigen deutschsprachigen Schulen hege ich die Hoffnung, dass das jemand aufgreift. Schade, dass es das Buch nicht auf Rumänisch gibt.
Das bedaure ich auch und finde es schade, dass es das Buch nicht auf Ukrainisch gibt! Als ich in Czernowitz recherchiert habe, hatte ich viele Gespräche mit ukrainischen Studenten, die oft wenig von ihrer Geschichte wussten und fragten, wieso erzählt man uns nichts davon? Sie wollen um die Vergangenheit wissen. Ich würde auch jederzeit gerne an eine rumänische Schule zu einer Lesung kommen.

Wie kam es zu Ihren Forschungsreisen nach Czernowitz? Wie recherchiert man überhaupt für so ein Buch?

Ich habe gelesen und gelesen, bin erstmal in die Geschichte eingetaucht. Ich habe im Vorfeld viel Korrespondenzen geführt mit einer eindrucksvollen Gesprächs-Gruppe von Edgar Hauster per Internet (czernowitz.ehpes.com). Hauster, dessen Großvater aus Czernowitz kam, hat diese Erinnerungs-Plattform geschaffen, um das Gedächtnis an das jüdische Czernowitz zu bewahren. Er sammelt weltweit Informationen von Zeitzeugen. Ich wurde mit meinem Anliegen in die Gruppe aufgenommen und dann aus aller Welt mit Informationen versorgt von ausgewanderten Juden, die dem Holocaust entronnen waren und deren Nachkommen. Unter anderem mit einem Friedhofsplan von Czernowitz. Alle waren begierig, einen Mosaikstein zu liefern gegen das Vergessen.

Die Seite hat auch die Czernowitzer Zeitung „Der Tag“ digitalisiert, die man einsehen kann und Infos über den damaligen Alltag, das Wetter und viele Details erhält, die eine Lebensgeschichte so erlebbar machen. Denn ich wollte, dass man in der Biografie mitlebt. Die Plattform hat mir auch weitere Lektüre vermittelt, die nicht im gängigen Kanon zu finden ist. Dort stieß ich auf Lagerberichte von Personen, die im selben Lager wie Selma gelebt haben. Das vermittelt Authentizität. Ich las von Alfred Kittner, der später lange Zeit in Bukarest gelebt hat, bevor er geflohen ist, und der ein Gedicht von Selma gerettet hat. Es gibt tausende Briefe aus dem Lager, in dem Selma war. Wir lesen, wie die Leute gebettelt und Tauschgeschäfte gemacht haben: Schuhe gegen ein Stück Brot und sich dann aus Zwiebelschalen neue geflochten haben, um nicht zu erfrieren. Diese Briefe wurden damals abgefangen, erst 2013 erstmal von Benjamin M. Grilj der Öffentlichkeit zugänglich gemacht in dem Buch „Schwarze Milch. Zurückgehaltene Briefe aus den Todeslagern Transnistriens“.

Wie noch kamen Sie mit Zeitzeugen, die Selma kannten, in Kontakt?

Über die Sekundärliteratur. Es war überwältigend, als ich zum Beispiel Julius Scherzer in Arizona ausfindig gemacht habe. Ein Holocaust-Überlebender aus Czernowitz, dessen Autobiografie ich gerade gelesen hatte. Er sprach darin von seiner Schwester Berta. Mit einer Berta war Selma in der zionistischen Gruppe Hashomer Hazair gewesen. Mit einer Berta ist sie auf einem Foto zu sehen. Julius vermittelte mir dann den Kontakt zu seiner Berta in Israel. Und Berta – war tatsächlich Selmas Berta. Die während der Getto-Zeit mit ihrer Familie bei Selmas Großmutter untergekommen war! Mit Berta hatte Selma im Hause ihrer Großmutter den schweren Winter 1941/42 überstanden. 

Berta und Selma waren intellektuell befreundet gewesen und Berta hat mir in unseren Telefonaten viele Schlüsselinformationen geliefert. Vorgefasste Bilder von Selma konnten revidiert werden. Man hatte in frühen Berichten über Selma immer das romantische Kleinmädchenklischee übernommen: dass Selma unter der Schulbank Gedichte geschrieben hat, dass sie arm war und oft ausgelacht wurde. Und da es so wenig neue Informationen gab, kreiste man auf der Schiene weiter. Frage ich mich, warum sich solche Klischees so lange halten, dann fällt mir immer ein Ausspruch von Hilde Domin ein, eine 1909 geborene Jüdin, die aus Deutschland nach Italien über England und Kanada in die Dominikanische Republik geflohen ist, mit der ich befreundet war und deren Biografie ich geschrieben habe. Domin sagte: Der Hintern des Vordermanns ist für den Nachfolger die Sonne! (lacht) Ist es nicht so? Man greift auf überlieferte Informationen zurück. 

Etwa der Name von Selma?

Ja – klar. Als ich mit der Recherche begann und die ersten Exposés für Verlage einreichte, bezog ich mich auch auf den Doppelnamen Selma Meerbaum-Eisinger. Man kannte es ja nicht anders. Doch dann bin ich nach Czernowitz gefahren und habe in den Archiven geforscht, habe Kopien und Mikrofilme aus den jüdischen Gemeindebüchern gesichtet und gelernt, dass Selma nie mit Doppelnamen geführt worden ist. 

Wie kommt man überhaupt als deutsche Germanistin dazu, die Biografie eines jüdischen Mädchens aus Czernowitz zu schreiben?

Ich bin im Nachlass von Hilde Domin in deren Briefen auf Selma gestoßen. Domin war begeistert von der Lyrik des jungen Mädchens: Gedichte zum Weinen schön, sagte sie. Das hat mich neugierig gemacht.  Doch es gab wenig Konkretes, viele Ungereimtheiten. Die einen schrieben, dass Selma ein Jahr alt war, als ihr Vater starb, die anderen sprachen von vier Jahren. Auch das falsche Geburtsdatum, der 15. August 1924, wurde immer wieder übernommen – und zum Teil bis heute nicht korrigiert. Es ist doch nicht nachvollziehbar, dass ein Verlag aus Anlass ihres 100. Geburtstags im Februar 2024 eine Neuauflage der Ausgabe von 1980 vornimmt, aber beim August-Geburtstag bleibt.  Das ist ärgerlich. Wieso ignoriert man Recherchen und neue Erkenntnisse?

Und wegen dieser Ungereimtheiten haben Sie selbst zu forschen begonnen?

Ja, das hat Neugier geweckt. Das muss man doch rauszukriegen sein, dachte ich damals. Denn auch zu Hilde Domin hatte ich viele neue Erkenntnisse gewonnen – die nicht immer alle erfreuten. Denn man zerstört ein überliefertes Bild, eines, das hagiografisch aufgebaut war – und bei Selma komme ich mit dem neuen Namen daher! Wie kommt die aus Deutschland dazu und präsentiert einen neuen Namen? (lacht). Auch mit Petro Rychlo (Anm.: der ukrainische Germanist Prof. Dr. Petro Rychlo, Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Essayist und Hochschullehrer an der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz) habe ich mich damals in Czernowitz getroffen. Er bleibt einfach beim alten Namen.

Was hat Sie noch berührt während der Recherchen?

Zum Beispiel, als Berta Scherzer über den Einmarsch der russischen Soldaten in Czernowitz erzählte. Sie war selbst im hohen Alter noch enthusiastisch, erzählte, wie sich viele Mädchen von den Sowjets angezogen fühlten, weil sie in ihnen die Befreier sahen – Gleichheit, Freiheit, Solidarität! Auch für Juden! Selbst behütete Mädchen wie die Schwester von Celans Freundin Liane Schindler ließen sich auf intime Verhältnisse mit Russen ein. Die bei Schwangerschaft in einer Katastrophe endeten: die Mädchen brachten sich um. 

Aber die Russen entpuppten sich letztlich doch auch als Ausbeuter. Und als die Rumänen 1941 wieder zurückkamen, stand für sie fest: Jene, die jetzt noch in Czernowitz sind, sind entweder Kommunisten oder Juden – und da begann der rumänische Vernichtungsfeldzug gegen die Juden, der als „blutiger Juli“  in die Geschichte einging.

Selma wurde deportiert, aber es gelang ihr, ihren Gedichtband „Blütenlese“ über ihre Freundin Else an Leiser Fichmann zu übermitteln. Ist es nicht ein Wunder, dass unter solchen Umständen das Werk überlebt hat?

… und dass Leiser es kurz vor seiner Ausreise dann doch an Else zurückgegeben hat, denn er ertrank auf dem Dampfer Mefkure, mit dem er nach Palästina unterwegs war, der von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. Ich habe den Bericht der Wehrmacht gelesen vom Auslaufen der Mefkure, es gab Stundenprotokolle. Es waren insgesamt drei Schiffe unterwegs gewesen. Die Mefkure war heillos überfüllt mit viele mittellosen Juden, weil wohlhabende jüdische Passagiere beim Anblick des Zustands des Dampfers ihre Plätze im letzten Moment freigaben. Leisers Rest-Familie rettete sich später nach Israel, doch ihr Schicksal blieb tragisch: Leisers Bruder stürzte mit dem Fallschirm in den Tod, die Mutter kam bei einem Autounfall ums Leben. 

Waren Sie die erste, die die „politische Selma“ entdeckt hat?

Ja, das war vorher so nicht bekannt, bisher gab es nur das Klischee der romantischen Selma. Die „Blütenlese“ hielt man für Gedichte ihrer unerwiderten Liebe zu Leiser Fichmann. Ich tendiere aber eher dazu, Leiser als intellektuellen Partner zu sehen. Berta lieferte auch hierzu die Schlüsselinformationen, nämlich dass Selma eine politische Rolle in der Gruppe Hashomer Hazair innehatte und dort sogar eine Wortführerin war.  Sie hat Leiser, der ihre Gedichte schätzte, das Büchlein mit auf den Weg gegeben.

Sie haben die erste Version Ihres Buchs 2014 herausgegeben, 2023 gab es eine Neuauflage – gab es da entscheidend neue Erkenntnisse?

Ja, es gab berührende Leserzuschriften nach der Erstveröffentlichung. Die habe ich nun verwertet, viel Neues aufgenommen. Das Bild der verantwortungsbewussten, reifen Selma hat sich durch Josef Eshet, einem Überlebenden, verfestigt, der als Sechsjähriger nicht nur im selben Lager wie Selma war, sondern auch in derselben Baracke: Selma hat sich dort um die Kinder gekümmert, sie vom Morden ferngehalten, hat sie weggeholt von dem Ort des Grauens, wo die Toten über die Böschung in den Fluss geworfen wurden und versuchte, sie mit der Erkundung der Natur zu abzulenken und zu trösten. Schauen Sie, was Selma über die „Irren“ im Lager sagte – das zeugt von einer Menschenzärtlichkeit, an die sich der 82-jährige Josef erinnerte: Selma erklärte den Kindern, dass es nicht die Entscheidung der Kranken gewesen sei, in diese hilflose Lage zu kommen. Man müsse Mitleid haben, anstatt sie zu verjagen oder gar verhungern zu lassen. Ist diese Wertevermittlung des jungen Mädchens in dieser grauenvollen Situation nicht sehr eindrucksvoll?

Welche Rolle spielte Selmas Cousin Paul Celan?

Ich glaube, dass er eine prägendere Rolle gespielt hat als bisher vermutet wurde. In der Jugendbiografie, die Israel Chalfen verfasst hat, liest man, dass die Zusammenkünfte der Familie sehr intensiv und häufig waren. Celan erkannte wohl Selmas Potenzial und ich habe gelesen, dass er seine Mitwirkung an einer Anthologie des DDR-Schriftstellers Heinz Seydel davon abhängig gemacht habe, dass auch ein Gedicht seiner kleinen Cousine mit aufgenommen wird. Sicherlich hätte er kein minderwertiges Gedicht weitergegeben! Wenn man die früheren Gedichte von Celan mit denen von Selma vergleicht, sieht man bei beiden die unbändige Hinwendung zur Natur, die Natur als Bollwerk erlebt – das tragen beide in sich. Aber Selma konnte die Perfektion von Celan oder Rose Ausländer nicht entwickeln, weil sie die Zeit nicht hatte.

Was erklärt, dass Selma Merbaums kleines Werk heute Teil der Weltliteratur ist?

Selma hat die deutsche Sprache meisterhaft beherrscht, hat keine abgegriffenen Bilder und Motive übernommen, sie hat Worte geschöpft und ist damit Celan und Ausländer sehr ähnlich. Sie profitierte von der Sprachvielfalt der Bukowina. Bei der Durchsicht der Originalgedichtblätter aus Yad Vashem in ganz hoher Auflösung entdeckte ich, dass sich schon bei der ersten Transkription ihrer handschriftlichen Gedichte Fehler eingeschlichen hatten. Nicht nur, weil es auf der Tastatur der Schreibmaschine in Israel keine Umlaute und kein „ß“ gab, sondern auch wegen Lesefehlern: so ist aus „bebendes Leben“ „lebendes Leben“ geworden, oder „der Fluss tut einen kleinen Kuck“, statt „Ruck“. Weil das falsch übertragen wurde, hatte man den falschen Eindruck und sie als „Kleine“ abgetan, die eben im großen Dichterreigen „mittanzen wollte“…

Später wurde auch das rumänische Motto ihrer eigenen Ausgabe „Blütenlese“ weggelassen (Anm.: ein Zitat von Ionel Teodoreanu aus dem Roman „Lorelei“), aber ich finde es wichtig, zeigt es doch, dass sich Selma der rumänischen Sprache nicht verweigert hat, ja, sogar einen rumänischen Romanautor zitiert. 

Wie reagieren junge Leute, die Sie mit Selmas Schicksal und Werk konfrontieren?

Letzte Woche habe ich vor 60 Schülern gelesen. Wie immer waren sie sehr betroffen. Einige bekannten dann, selbst auch Gedichte zu schreiben. Eine Schülerin sagte: Sie war ja so alt wie ich – aber das, was sie erlebt hat, das hätte ich nicht ertragen.

Jedes Jahr werde ich nach Spanien an die Universität in Valencia eingeladen, wo ich Kurse gebe für Studenten, die Deutsch lernen und sehe dieselbe Berührtheit, wie sie Hilde Domin beim ersten Lesen erfahren hat. Bei Selma gibt es noch viel zu entdecken: Die politischen Motive wurden bisher viel zu wenig beachtet. „Wiegenlied“ zum Beispiel, wo sie die Auswanderung nach Palästina in Frage stellt, früh schon die Vision hat, dass es auch dort kein friedliches Leben geben kann: „Sieh die Araber in weißem Gewand – sie schleichen von Rückwärts sich an. Bald steht das Zelt, bald die Wiege in Brand, …“  – welch große Vorausschau, dass man dort auch keine Ruhe findet. Wie ja auch ihre Erkenntnis, dass die Russen nicht die Freiheit und Solidarität brachten, die sich alle erhofft hatten.

Und was hat Sie selbst an Selmas Persönlichkeit und Schicksal am meisten berührt?

Die jugendliche Klugheit, ihr Enthusiasmus, ihre Selbstbestimmtheit und ihr Überlebenswille. Ich habe bei Arnold Daghani gelesen, dass Selma aus dem Lager mit einer ukrainischen Wache fliehen wollte. Ihre Eltern wären umgehend erschossen worden, wenn ihr die Flucht gelungen wäre. Selma aber wollte leben. Diese Entschlossenheit würde auch nachvollziehbar machen, dass ihr Verhältnis zu den Eltern selbst im Lager nicht gut war.

Der Gedanke ist traurig, dass Selma in dem rumänisch geführten Lager vielleicht überlebt hätte. Die Rumänen legten nicht diese kollektive Grausamkeit an den Tag. Die Deutschen schrieben in ihren Wehrmachtsberichten, dass mit den Rumänen kein Pogrom zu erzielen sei. Sie übten nur individuellen Sadismus aus. 

Vielen Dank für das interessante Gespräch!

Selma Merbaum, nicht Meerbaum-Eisinger

Für die 2014 erstmals erschienene Biografie hatte die Autorin drei Jahre lang recherchiert. Sie studierte monatelang die Kopien aus den Mikrofilmen der Gemeindebücher von Czernowitz: die Heiratsurkunde der Eltern, Chaim Meier Merbaum, genannt Max (der hebräische Name orthodoxer Juden repräsentiert die unsterbliche Seele – Chaim: das Leben – und wurde deshalb von Generation zu Generation weitergegeben. Und weil ihn so viele trugen, waren Verwechslungen Tür und Tor geöffnet. Ein individueller Rufname machte die Ansprache leichter) und Friederika Merbaum, die Schulbücher von 1934 – 1940 von Selma Merbaum, die dort übrigens immer schon mit dem richtigen Geburtsnamen und -datum geführt worden ist. Max änderte am 3. November 1922 seinen Namen von Chaim Meier in Chaim Meier Merbaum – auch dies wieder sorgsam in den jüdischen Gemeindebüchern dokumentiert. So wie auch die Hochzeit zwei Monate nach der Namensänderung. In allen offiziellen Dokumenten bis zur Sterbeurkunde ist von Merbaum die Rede.

Selma ist schon mit 9 Monaten zur Halbwaise geworden– wohl deshalb trat die Mutter des verstorbenen Vaters, Eidel Abisch, im Schulbuch an dessen Stelle (siehe Dokumentenfoto links unten). Nie auf alle Fälle ihr Stiefvater, den die Mutter nach dem Tode von Max Merbaum geheiratet hatte: Leo Eisinger. Die Schulbücher waren in Czernowitzer Regional- und Staatsarchiven zugänglich.

Auch in den Kopien der Heiratsurkunden von Leo Eisinger und Friederika Merbaum steht nichts von Namensänderungen oder Adoptionen. Scheidungen, Neuvermählungen, Adoptionen wurden säuberlich eingetragen.

Woher der Name Merbaum kam? Im Adressverzeichnis von 1914 gibt es in Czernowitz zwei Merbaums mit einem „e“: Abraham und Chaim Meier (Max). Abraham war Molkereibesitzer in der Bilaergasse und Max war Kaufmann in der Steingasse, wo später auch die Eisingers wohnten. Max und Abraham, so eine Zeitzeugin, hätten einander oft besucht und waren wohl Verwandte, ihr Verwandtschaftsgrad ist nicht genau bekannt.

Während Max immer mit einem „e“ geschrieben wurde, hat sich Abraham ab 1936 mit zwei „e“ geschrieben. Der Grund lässt sich historisch nicht belegen.
Auf den Deportationslisten von 1942 wird dann auch Selma plötzlich mit „ee“ geschrieben – aber da wurde wohl nach Gehör geschrieben – direkt hinter ihrer Mutter Frieda Eisinger und dem Stiefvater Leo Eisinger steht dort „Zelma Meerbaum“ – ohne Eisinger. Der Maler Arnold Daghani, der das Arbeitslager Mihailowka überlebte, in dem Selma ums Leben kam, zeichnete aus den Namen der im Lager verstorbenen Insassen einen Frauenkopf. Auch darin finden wir den Namen „Selma Meerbaum“ mit zwei „e“, aber auch dort gab es keine Dokumente mehr.

Wie aber kam es zu dem Namen „Meerbaum-Eisinger“? Er wurde 1976 erstmals von Hersch Segal, Selmas ehemaligen Lehrer an der jiddischen Schule, in die Welt gesetzt, als dieser vom Biografen ihres Cousins Paul Celan, Israel Chalfen, interviewt wurde. „Sie schreiben Selma Meerbaum, sie hieß aber Selma-Meerbaum-Eisinger. … ich glaube am besten schreiben Sie Selma Meerbaum-Eisinger“, habe dieser empfohlen. Zeitgleich editierte Segal Selmas Gedichte im Eigenverlag unter dem Namen Selma Meerbaum-Eisinger.

Ob Leo Eisinger Selma ein guter Stiefvater war, ist nicht belegt. Selma zieht wohl ab 1939 wegen tiefer Zerwürfnisse mit der Mutter zur Großmutter mütterlicherseits, bei der sie bis zur Deportation wohnen bleibt. Selbst im Lager Mihailowka, wohin sie gemeinsam mit den Eltern deportiert wird, scheint das Verhältnis zerrüttet geblieben zu sein.
 

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